Wer sagt, dass die Deutschen geschichtsvergessen seien? Serien wie Babylon Berlin und der Erfolg historischer Krimis und Romane zeigen: Die Leute lieben es! Mittels Brief- und Buchzitaten in die jeweilige Ära hineingezogen zu werden. Das ist „Geschichte live“.

Harald Jähner (*1953), Honorarprofessor für Kulturjournalismus, hat sich an die Zwischenkriegszeit gewagt. Sein Buch „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ ist ein Knaller. Man muss es lesen, man sollte auch den Kindern daraus vorlesen. Die Lektüre ist nämlich nicht nur informativ, sie ist äußerst vergnüglich.

Hier (für einen Großverlag) schreibt natürlich kein “Rechter“ – aber auch kein Linker, und das ist Ehre genug. Wir erfahren hier alles über die Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939. Wir erfahren es gut sortiert in 14 Kapiteln (von Arbeiterschaft und Architektur über Bürofräulein und Bubikopf bis hin zur „Querfront“ avant la lettre), und wir stellen durchweg eine faire Bewertung fest.

Die eigentliche Politik stellt in „Höhenrausch“ aber nur das Grundgerüst dar. Wir lernen den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, und seine Frau Louise als Kneipenwirte kennen.

Das muss man sich vorstellen: Ebert war Volksschüler und gelernter Sattler (ohne Gesellenprüfung), sie war Etikettenkleberin. Das waren das Nachfolgerpaar von Kaiser Wilhelm II. und Kaiserin Auguste Viktoria.

Autor Jähner legt dar, wie sehr der einfache SPD-Mann Ebert damals Zielscheibe des Spotts war. Wie rund 80 Jahre später Rudolf Scharping ließ er sich ungünstig beim Badespaß ablichten – ein Prolet!, so die Meinung der Republikfeinde. Als Thomas Mann 1922 (damals noch eher rechts zu verorten) vor Studenten eine Eloge auf den maßvollen, auf Ausgleich bedachten Ebert hielt, erntete er von der zuhörenden Studentenschaft Murren und unwilliges Füßescharren.

Was für Zeiten! Vieles, das wir heute zu genüge kennen, wurde damals schon vorweggenommen: die Inflation, die „neuen Medien“ (damals ein krasser Wandel: hin zum Telephon, zum Radio), das Wackeln der Geschlechterrollen, und ja, es gab damals bereits reichlich „Hate-Speech“ – die ideologischen Gegensatzpaare nahmen allesamt kein Blatt vor den Mund.

Nehmen wir nur die neuen Architekturtrends, Bauhaus, Flachdach, gnadenlose „Entstuckung“ alter Bausubstanz. Das war brutal an sich. Aber die traditionalistische Gegenseite nahm sich nichts: Man wollte den neuen, modernistischen Schöpfern gern „stundenlang in die Fresse hauen.“

Links und rechts schenkten sich gar nichts, damals. Nehmen wir Rosa Luxemburg mit ihrem heute berühmten Verdikt „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“: Sie hatte nicht nur Haare auf den Zähnen, sie war in Rat und Tat ultraradikal.

Das gleiche lässt Jähner für die von links gerühmte „Rote Ruhrarmee“ gelten, immerhin ein bewaffnetes Heer von 50.000 Mann in dieser militärisch abgespeckten Republik. Extremisten! Jähner: „Sie war mitnichten ein Zusammenschluss edler Menschenfreunde und Freiheitshelden.“ Links wie rechts wurde nicht lange gefackelt.

Den Großteil des Buchs macht aber die gesellschaftliche Umschau aus. Und die ist mindestens so spannend wie eine Netflix-Serie: Weltkriegskämpfer verdingten sich in Bars als Gigolos. Andere Kriegshelden, verkrüppelt, grämten sich, dass sie versicherungstechnisch mit zivilen Unfallopfern auf eine Stufe gestellt wurden. Tausend Milliarden Mark kostete ein Graubrot im November 1922. Der wertvollste (und doch so wertlose) Schein war damals der Hundertbillionenschein.

Der „Neger“, wie man damals sagte, wurde zum Anschauungsstück. Sogar der linke Kurt Tucholsky nutzte noch ein ärgeres „N-Wort“. Manche unter den neuen Schwarzen agierten stilecht als Preußen, andere als Tänzer. „Tanzen wie im Kongo“ wurde in. Man zappelte sich ab – das Wort von der „kulturellen Aneignung“ gab es noch nicht.

Dieses Buch, reich bebildert, bietet ein hinreißendes Panoptikum der Jahre 1918 bis 1933.

Autor Harald Jähner legt explizit Wert darauf, diese Zeit nicht von ihrem Ende her zu betrachten. Das ist gut, weise und richtig. Geschichte ist immer offen.

Bestellmöglichkeit:

» Bestellen kann man das Buch „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ hier beim Verlag Antaios.
» Die Kulturjournalistin Ellen Kositza hat das Buch in einer Video-Rezension gewürdigt – siehe Video oben.

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17 KOMMENTARE

  1. Wenn die Geschichte offen ist, dann werden wir mit den Deutschen also noch viele Zeitepochen erleben, die im Nachhinein gar nicht so gemeint waren. Und vermutlich genauso viele Abstürze. Schade…

  2. Noch ein Buch, das ich nicht mehr lesen kann, obwohl es mir sicher gefallen würde. Wäre sicher interessant, es mit den damaligen Zeitungen, die ich quergelesen habe, und den Erzählungen der Eltern und Großeltern zu vergleichen.

  3. Das Leben zwischen 1918 und 1933 habe ich Dank meiner Familie insofern kennengelernt als daß sie es aus ihrem – nicht politisch geprägten – Blickwinkel betrachteten. Die Leute mussten ganz einfach überleben, waren aber gedemütigt durch den Versailler-Vertrag und die November-Verbrecher.
    Als ein sehr, sehr altes Familienmitglied, die diese Zeit mitgekriegt hat und nicht dement ist, mal im Heim darüber berichten wollte wurde mir als Angehöriger ganz klar gesagt, daß ihre Aussagen nicht erwünscht seinen weil sie nicht Esther B. heisst.
    So hat sie es mir übermittelt und danach haben die GEZ-Geschichtsverfälscher Freie Bahn.
    Und genau deshalb wird dieses Buch kein Erfolg sein. Den Rest besorgt der Adi-TV-Nischen-Sender, wo machmal den ganzen Tag „rumgehitlert“ wird.

  4. hans 13. September 2022 at 19:13

    Wir haben nicht nur viel Platz und leere Wohnungen, wir haben auch viel Gas und Strom für diese Leute übrig.

  5. Als Kind der Anfang ’60iger, im Westen geboren und aufgewachsen und zur Schule gegangen, gibt es Deutsche Geschichte erst ab 1939-45. Die Zeit vor 1939-45 wurde in meiner Schulezeit mit keiner einzigen Silbe erwähnt.
    Ebenso stahl man mir zwei wertvolle Jahre der Mathematik, indem man in der fünften und sechsten Klasse anstatt Mathematik „Mengenlee(h)re“ als Schulfach hatte.

  6. gonger 13. September 2022 at 19:37

    Als ein sehr, sehr altes Familienmitglied, die diese Zeit mitgekriegt hat und nicht dement ist, mal im Heim darüber berichten wollte wurde mir als Angehöriger ganz klar gesagt, daß ihre Aussagen nicht erwünscht seinen weil sie nicht Esther B. heisst.

    So etwas ähnliches habe ich kürzlich erst mitbekommen. Das in Altersheimen wahre Erlebnisse, Wahrheiten erzählt wurden.
    Zufälligerweise sind manche Erzählungen Deckungsgleich, obwohl die Altenheime weit auseinander lagen und es keinerlei Verbindung gab.
    Seltsamerweise bemerkte ich Ähnlichkeiten in Erzählungen meiner Vorfahren oder im Tagebuch meines Großvaters.

  7. Kulturhistoriker 13. September 2022 at 19:26

    Noch ein Buch, das ich nicht mehr lesen kann, obwohl es mir sicher gefallen würde.

    Ist es indiskret nach dem Grund zu fragen ❓

  8. An lorbas 19:53

    Ich (Jahrgang 1964) hatte von der fünften bis zur zehnten Klasse wöchentlich zwei Stunden Geschichtsunterricht.
    Sechs Jahre, a 40 Wochen, a zwei Stunden, macht insgesamt 480 Stunden.
    Ab dem zweiten Halbjahr der achten Klasse bis zum Ende der zehnten Klasse war nur noch Adolf das Thema.
    Zweieinhalb Jahre von sechs Jahren, oder 200 Stunden von 480 Stunden.
    Die Nachkriegsjahre wurden überhaupt nicht behandelt.
    Dieses Thema hing mir schon so richtig zum Halse raus.
    Und dann hörte man nach seiner Schulzeit immer wieder die Forderung, dass man den Schülern noch viel mehr darüber berichten müsste.
    So ein Quatsch.

  9. AUC 13. September 2022 at 21:22

    An lorbas 19:53

    Von den Stunden her sah es bei mir/uns ähnlich aus. Was ich jedoch sagen muß ist, dieser „Schuldkult“ wurde nicht betrieben. Der Unterricht war eher informativ und sachlich.
    Das jedoch unsere Geschichte viel mehr umfasst, blieb uns leider verborgen.

    Später hatten wir in der elften und zwölften einen Chemielehrer, der den Klassenraum betrat, den rechten Arm hob, die Haken zusammenschlug und laut und deutlich schon fast schrie: „So hoch liegt der Schnee bei uns zu Hause.“
    Heutzutage undenkbar. Alle Handys wären auf den Lehrer gerichtet und die Videos wären in Sekundenschnelle in alle Welt verbreitet.
    Es gab damals auch einen Zusammenhalt. Schimpfworte wie „Jude, Schwuchtel, …“, kannten wir nicht.
    Es gab damals lediglich zwei Geschlechter … wie sich doch die Zeiten ändern. 😀

  10. Die Russen hatten Stalin, die Chinesen Mao…..jedes Land hat eigene Diktatoren gehabt, die für viele Leichen im Keller sorgten.
    Warum werden wir Deutschen bis heute gezwungen, Buße für etwas zu tun, das lange vor unserer Geburt geschah? Meine Großeltern waren damals noch Kinder……und wir heutigen Deutschen können nix dafür.
    Der ewige Schuldkult stinkt zum Himmel…..Der Schuldkult ist so, als ob man einen jungen Mann, der nie eine Straftat begangen hat, für einen Banküberfall, den sein Opa oder Uropa begangen hat, ins Gefängnis schicken.

  11. lorbas 13. September 2022 at 19:58

    Ich habe einige Bücher, die ich noch nie gelesen habe. Daß ich die noch lesen werde, glaube ich nicht.

    Warum? Vielleicht weil ich dafür schon zu alt bin? (Ich war 1968 in Marburg vor dem Audi Max dabei.)

    Und dann kommen ständig neue dazu.

    Und dann sind da auch noch die Bestände des Stadtarchivs.

  12. Kann der deutsche Schuldkult etwa doch mit der Religion der Betroffenen zusammenhängen, deren Jahwe Sünden bis in die dritte und vierte Generation verfolgt?

  13. Kulturhistoriker 13. September 2022 at 22:02

    @lorbas 13. September 2022 at 19:58

    Ich habe einige Bücher, die ich noch nie gelesen habe. Daß ich die noch lesen werde, glaube ich nicht.

    Warum? Vielleicht weil ich dafür schon zu alt bin? (Ich war 1968 in Marburg vor dem Audi Max dabei.)

    Hochinteressant. https://meine-marburger-region-entdecken.de/listings/1968-in-marburg-ein-50jaehriges-jubiliaeum-zeigt-die-vielfalt-der-bewegung/

    Und dann sind da auch noch die Bestände des Stadtarchivs.

    Etwa die des Marburger Stadtarchivs ❓ https://www.marburg.de/portal/seiten/stadtarchiv-900000947-23001.html

  14. Die „goldenen 20er Jahre“ des 20. Jahrhunderts kenne ich aus Erzählungen und Filmen, wobei man letztere nur bedingt für bare Münze nehmen kann. Aber es war ein Jahrzehnt des Aufbruchs, der klaren Worte, der Lebensfreude, des Leids und damit auch der Überlebenskunst. Aber ich denke, dass Deutschland damals lebendiger war als heute. Die uns heute ihre verquere Weltsicht, ihre Ideologie, aufaufoktroyieren (wollen), sind nicht lebendig, nicht maßvoll, haben keinerlei Empathie, allenfalls aufgesetzte, sind keine Menschenfreunde und hassen sich selbst, was sie auf andere projezieren. Somit ist das Jahrzehnt der 20er Jahre im 21. Jahrhundert nur bedingt mit denen des vergangenen zu vergleichen. Auch der Ton ist heute bei weitem nicht so rau, man setzt sich nicht mehr auseinander, streitet nicht mehr, man tut verständnisvoll und hinter dem Rücken plant man die Vernichtung seines Kritikers. 100 Jahre Deutschland, zwei Abstürze, der dritte ist in Arbeit und nichts gelernt. Wie viele kommen noch, oder wird dieser der endgültige sein? Wenn es nach dieser Hampelampel geht, dann ist das gewiss.

  15. lorbas 14. September 2022 at 01:11

    Das Marburger Stadtarchiv habe ich während meiner Tätigkeit in Marburg oft und mit Erfolgen genutzt.

    Nein, jetzt meine ich unser heimisches (nordhessische Kreisstadt), das leider corona-geschädigt ist (immer noch nur mit Maske).

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