Chaim Noll (Foto), ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste.
Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.
„Um einander zu verstehen, müssen wir über
das sprechen, was uns unterscheidet.” (1)
Im Folgenden soll vergleichend von zwei Büchern die Rede sein, von zwei Textwerken und geistig-religiösen Konzepten, die durch das Hervorgehen des Einen aus dem Anderen eng miteinander verbunden sind. Die welthistorische, kulturprägende, zu gesellschaftlicher Aktion inspirierende, Krieg und Frieden evozierende Wirkung beider Texte ist ihre erste ins Auge springende Gemeinsamkeit, wobei in beiden Fällen, Bibel wie Koran, vorsorglich darauf hingewiesen werden muss, dass ein religionstiftendes Buch, überhaupt ein ideellreligiöses Konzept, mit den Aktionen der Menschen, die sich darauf berufen, nicht identisch ist.
Richtiger wäre, von drei Büchern zu sprechen, denn die hebräische und die christliche Bibel sind bekanntermassen nicht identisch. Doch da die christliche „Heilige Schrift“ die gesamte jüdische Bibel, den hebräischen tanach, in einer von Juden angefertigten griechischen Übersetzung, der Septuaginta, ihrerseit kanonisiert und unter dem Namen „Altes Testatment“ in sich aufgenommen hat, ist aus christlich-europäischer Sicht die jüdische Bibel erklärtermassen Bestandteil des eigenen Konzepts. (2) Anders als der Koran hat das Christentum die ursprünglichen Bücher der Juden unverändert als religiöse Grundlage beibehalten, ihr Menschenbild, ihr Konzept von der Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer, ihren Moralkodex, das von Nietzsche verächtlich als „Sklavenmoral“ verworfene Mitgefühl mit den Schwächeren, mit Frauen und Kindern, mit dem „Fremden, der in deinen Toren wohnt“, die Abschaffung der lebenslangen Sklaverei. (3)
Europäische Aufklärung, Renaissance-Humanismus und bürgerliche Toleranz basieren auf diesem Menschenbild – ein Umstand, der dem Bewusstsein vieler Europäer entfallen ist. Irrtümlich halten viele Menschen unserer Tage Toleranz, Glaubens- und Meinungsfreiheit für Gegensätze zum biblischen Konzept, für mühsam in Aufklärung und bürgerlicher Revolution der religiösen Bevormundung abgetrotzte Freiheiten. Die Legende von der Originalität des aufgeklärten Denkens wurde fester Bestandteil der Identität des „modernen Europa“, und dies umso mehr, als die Kenntnis der eigentlichen Ursprünge allgemein abhanden kam. Erst jetzt, da die massenhaft gewordene Unkenntnis der religiösen und antiken Quellen einen spürbaren Rückfall ins Inhumane mit sich bringt, zugleich eine sichtbare Schwächung Europas bis hin zur Unfähigkeit, sich gegen aggressive Infragestellung von anderer Seite zu behaupten, wird die biblische Verwurzelung der modernen europäischen Werte wieder thematisiert.
Als Europäer stehen wir im Bann der berühmten Ring-Parabel, zuerst erzählt im „Decameron“ des Boccaccio, später in Lessings Stück „Nathan der Weise“, welche die drei monotheistischen Konzepte Judentum, Christentum und Islam drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen vergleicht und in dieser Metapher die tiefen Gegensätze und Widersprüche zwischen ihnen zu relativieren sucht. (4) Da sie alle drei einander zum Verwechseln ähnlich sind, so die Logik der Ring-Parabel, könne es sich bei den in ihrem Namen ausgefochtenen Kontroversen, Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse handeln, die durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.
Die Ring-Parabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, eines legendären Flüchtlings aus dem babylonischen Ur, wandernden Herdenfürsten und Propheten, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen. (5) Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die „drei abrahamitischen Weltreligionen“ zu bezeichnen und geistig-konzeptionell zu kategorisieren.
Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19.und 20.Jahrhunderts zu eigen gemacht und damit alle drei Religionen eines Gutteils ihres Charakters beraubt. Die Kategorie „drei abrahamitische Religionen“ bedeutet eine Pluralisierung, damit auch relative Entwertung. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche sein. Und da keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche ist, kann sich der moderne Mensch getrost von ihnen abwenden und in einer neu-heidnischen, hedonistischen, unverbindlichen Spass-Kultur sein Heil suchen. Unter dem Vorwand einer überlegenen Sicht auf die drei angeblich gleichwertigen – und gleichweise unzeitgemässen – Religionen, entledigen sich vor allem die christlichen Nationen Europas, wie von Nietzsche vorausgesagt, des biblischen Gottes und seines dem Menschen offenbarten Wertekanons, als sei er nichts als lästiger Ballast.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Die Metapher von den drei Ringen, die einander zum Verwechseln ähneln, so dass sich angeblich nicht mehr feststellen liesse, welcher der ursprüngliche war und welcher der nachgeahmte, ist schon deshalb falsch, weil bei den drei in Frage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit Originalität ihrer Ideen feststellbar ist. Schon von daher sind die „drei abrahamitischen Religionen“ von Grund auf verschieden: das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war Jude, sogar pharisäischer Schriftgelehrter – , während der Islam eine wesentlich spätere, ausserhalb oder am Rand der jüdischchristlichen Sphäre entstandene Bewegung ist, deren Textwerk, der Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient und zugleich ihre irdischen Vertreter bekämpft. Die über Jahrtausende auseinander liegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, das Zutreffen der Ring-Parabel zu bezweifeln. Auch sonst wäre der Wahrheitsgehalt der Parabel zu prüfen, die aus ihr abgeleitete These von der spirituellen „Gleichheit“ der drei „abrahamitischen Religionen“ bis hin zu der heute in Europa verbreiteten, überaus bequemen, von jeder genaueren Kenntnis unbeschwerten Annahme, diese „Gleichheit“ mache es überflüssig, sich überhaupt noch ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen. Ursprünglich, in der Version des Boccaccio, lange vor Lessings bedeutungsschwerer, pseudo-philosophischer Wiedergabe im „Nathan“, war die Ring-Parabel ein listiges „Geschichtchen“ (im italienischen Original: una novelletta), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin entziehen wollte. Die in der Not und halb im Scherz erzählte novelletta aus Boccaccios Unterhaltungs-Roman wurde über den Umweg des deutschen Aufklärers Lessing zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.
Absicht dieser Betrachtung ist nicht, die eine Religion gegenüber der anderen auf- oder abzuwerten, sondern Voraussetzung zu schaffen für Austausch und Gespräch. Ein echter Dialog ist nur möglich, wenn jede Seite um ihre Herkunft und ihre Überlieferungen weiss, um die Positionen, die sich daraus im Heute ergeben, um die Möglichkeiten einer Annäherung an die jeweils andere Seite, jedoch auch um die Grenzen dieser Annäherung. Aus tagespolitischem Interesse werden diese Grenzen heute verwischt, mit dem Ergebnis zunehmender Verunsicherung. Bibel und Koran sollen hier in gebotener Kürze und Konzentration unter folgenden Aspekten gegenüber gestellt werden: Genealogie, Textstruktur und –konsistenz, Menschenbild, das Verhältnis zu Krieg und Frieden, der im Text dargestellte anthropologische Prozess.
Genealogie: Der Koran ist mehr als ein Jahrtausend nach der hebräischen und fünf bis sechs Jahrhunderte nach der christlichen Bibel entstanden, in eine Umgebung, die bereits weitgehend von biblischem Denken geprägt war. Mohamed lebte und wirkte am Rande des oströmischen Reiches, das rund zwei Jahrhunderte zuvor das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in geographischer Nähe zu den damaligen Zentren der byzantinischen und syrischen Kirche einerseits und den grossen talmudischen Schulen des babylonischen Judentums, Sura und Pumbedita, andererseits. Der Inhalt der Bibel war ihm bekannt, er war mit Christen und Juden in alltäglichem Kontakt und sprach als Kaufmann höchstwahrscheinlich aramäisch, die lingua franca der antiken nahöstlichen Welt, zugleich die Sprache, in der sowohl die Werke der syrischen Kirche als auch der babylonische Talmud geschrieben wurden.
Vielleicht behauptet deshalb der Hadith, die Sammlung der Berichte über Worte und Taten Mohameds, dass der Prophet Analphabet gewesen sei: um den Vorwurf, es handle sich beim Koran – spirituell und geistesgeschichtlich – um ein Plagiat, von vornherein zu entkräften. (6) Dieses Wort ist dennoch immer wieder gefallen, gerade in den Untersuchungen von Kennern der hebräischen, griechischen, aramäischen und arabischen Originaltexte, etwa in Franz Rosenzweigs Buch „Der Stern der Erlösung“ von 1921. (7) Rosenzweig hatte zuvor Arabisch gelernt, um das Werk in dieser Sprache lesen zu können, schon weil orthodoxe islamische Theologie jede Übersetzung des Koran, erst recht jede exegetische Textarbeit in anderen Sprachen für unzulässig erklärt.
Nach einem der ersten Texte des Hadith, überliefert von Aisha, der Witwe des Propheten, wurde dem analphabetischen Mohamed die Lehre vom Erzengel Gabriel mündlich mitgeteilt, und zwar mehr oder weniger unter Zwang. (8) Der Erzengel Gabriel galt schon beim biblischen Propheten Hesekiel als Überbringer der Botschaft, zumal in der Darstellung des babylonischen Talmud. (9) Auch vom Propheten Daniel heisst es, er hätte seine Botschaft von einem Engel empfangen. (10)Dass ein Prophet unter Umständen genötigt werden muss, die ihm zuteil werdende Mission anzunehmen, ist gleichfalls ein bekanntes biblisches Motiv, bekannt etwa aus den Büchern Jeremia oder Jona. (11) Der Hadith, eine der Quellen islamischer Tradition und Gesetzeskunde, erweist sich schon zu Beginn, in der Überlieferung, wie Mohamed seine Botschaft empfing, als ein in Inhalt, Erzähl-Struktur und Leitmotivik biblisch geprägter Text.
Dem Hadith zufolge ging Mohamed nach Empfang der Botschaft zu einem Schriftkundigen, um aufschreiben zu lassen, was er gesehen hatte. Von diesem Schreiber, Waraqh ibn Naufal ibn Asad, einem Vetter von Khadijah, der ersten Frau des Propheten, heisst es im Hadith, er hätte „die hebräische Schrift“ beherrscht und „von den Evangelien in Hebräisch abgeschrieben, was Allah gefiel, das er schreiben sollte“. (12) Diesem Abschreiber biblischer Texte diktierte Mohamed, der islamischen Tradition zufolge, die ersten Botschaften seiner prophetischen Vision. Damit steht der Hadith in offenkundigem Widerspruch zu dem mehrmals im Koran verkündeten Diktum, der Koran sei ein arabisch geschriebenes Buch. (13)
Das Dogma vom arabisch diktierten und geschriebenen Koran wird auch vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt bezweifelt, etwa in dem viel diskutierten Buch eines deutschen Orientalisten, der unter dem Pseudonym „Christoph Luxenberg“ publiziert (aus Furcht vor einer fatwah, dem lebensgefährlichen Verdikt islamischer Geistlicher, wie es im freiheitlichen Europa bereits andere akademische Forscher bedroht). (14) „Luxenberg“ geht davon aus, das Original des Koran wäre in der damals dominierenden Sprache, Aramäisch, geschrieben worden, schon deshalb, weil Arabisch erst rund hundert Jahre nach Mohameds Tod als Schriftsprache belegt ist. Die aramäische Erstschrift des Koran wäre dann in derselben Sprache geschrieben wie die Texte der syrischen Kirche und der babylonische Talmud, was die mühelose Übernahme zahlreicher Motive, Gedanken und kompletter Geschichten aus beiden Quellen erklären würde. (15)
Für „Luxenbergs“ These spricht mancher Hinweis im islamischen Schrifttum selbst. Etwa die im Hadith überlieferte Erinnerung des Zaid ibn Thait, der Prophet hätte ihm befohlen, „die Schrift der Juden“ zu erlernen, um Aufzeichnungen für Mohamed machen zu können, wobei zwei andere Hadith-Überlieferer, Abu Dawud, und Tirmidhi, hinzufügen, diese Schrift sei die syro-aramäische gewesen. (16) In der Tat ist eine „Schrift der Juden“ schon seit den Tagen vor der Zeitenwende – und bis heute – die aramäische. Seit der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil wurden hebräische Texte in aramäischen Lettern geschrieben, da das aramäische Alphabet das im Alltag gebräuchliche war. (17) Auch der erwähnte arabische Schreiber Waraq ibn Naufal, Mohameds erster Aufzeichner, wird sich – zumal als Nicht-Jude – sehr wahrscheinlich der aramäischen Schrift bedient haben, wenn er, wie der Hadith überliefert, „in Hebräisch aus den Evangelien abschrieb“.
Der Koran ist zu weiten Teilen Bibel-Exegese. Er beschäftigt sich ganze Suren hindurch mit biblischen Figuren und erzählt ihre aus der Bibel bekannten Geschichten nach, wobei auch talmudische Midrashim oder christliche Legenden einfliessen. Nacherzählt, paraphrasiert oder leitmotivisch erwähnt werden Lebensweg, Taten und Bedeutung von Adam, Noah, Abraham, Isaak und Jakob, in einer ganzen Sure von Joseph, in einem summarischen Abschnitt von Moses und Aron, dann nochmals von Abraham und Noah, David, Salomon, Hiob, Jona und Sachariah, in einer eigenen Sure wiederum von David und seiner späten Gattin Bat Sheva, in einer anderen nochmals ausführlich von Moses, Lot, dem Propheten Elias und noch anderen Gestalten der hebräischen Bibel. Auch aus den christlichen Evangelien übernahm Mohamed auf diese Weise Erzählstoff und Personen, etwa Jesus, Johannes und Maria. (18) In der Maria gewidmeten Sure gibt es wiederum eine längere Passage über Abraham, Isaak und Jakob, drei Gestalten, die im biblischen Text in keinem direkten Zusammenhang zu Maria stehen – ein Beispiel für die oft sprunghafte Assoziations-Technik, deren sich der Verfasser des Koran im Umgang mit den biblischen Stoffen bedient.
Nähme man vom Koran alles hinweg, was biblischer Stoff, späteres jüdischtalmudisches oder christlich-theologisches Denken ist, bliebe nur noch ein schmaler Korpus übrig. Im Grunde ist das meiste, was der Koran an Fakten mitteilt, biblischer Stoff. Wie ist bei dieser unbestreitbaren Abhängigkeit von jüdischchristlichem Gedankengut die antijüdische und antichristliche Polemik des Textes zu erklären, die ein stilistisches Leitmotiv der 114 Suren bildet? Der polemische Unterton ist eine der Merkwürdigkeiten des Koran, die nur ihm als dem letzten der drei hier betrachteten Textwerke möglich ist. Während Juden und Christen als die Früheren von der Existenz der späteren Religion nicht wussten, sich folglich auch nicht mit ihr beschäftigten, konnte sich der Koran von Anfang an in polemischem Ton mit ihnen auseinander.
Die Polemik des Koran ist wiederum von den christlich-jüdischen und innerchristlichen Feindseligkeiten des 5. und 6. Jahrhundert beeinflusst. Der Aufstieg der Lehre Mohameds und des Islam wurde durch innere Zerrissenheit des Christentums und christlichen Judenhass begünstigt. Mit Melito von Sardes, Ambrosius und einigen Kirchenvätern hatte sich der Antijudaismus der Kirche konsolidiert. Zugleich waren byzantinische, römische und ägyptische Kirche über die ungeklärte Frage von Christi Natur so tief zerstritten, dass ihre Versöhnung undenkbar schien und ihre Missionstätigkeit im Osten des Reiches erlahmte. Aussenstehende, zumal ungebildete, analphabetische Wüstenbewohner, verloren in den spitzfindigen innerkirchlichen Debatten die Orientierung. Die Vehemenz der Kämpfe zwischen den verschiedenen Kirchenfraktionen und zwischen diesen und den Juden stand in offensichtlichem Widerspruch zu der in der Bibel geforderten Nächstenliebe. In diese Bresche stiess Mohamed mit einer vereinfachten Version des monotheistischen Konzepts, die vor dem Plafond der zeitgenössischen Zerwürfnisse überzeugend und integrierend wirkte.
Der neue Prophet leugnete keineswegs, dass er nur vollenden wollte, was vor ihm andere begonnen hatten, nur in wahrem Gottesgehorsam auszuführen sich anschickte, was Juden und Christen bereits enthüllt worden war, aber dann von ihnen durch Abtrünnigkeit verraten. Er sah sich als Verteidiger der Lehre gegen ihre ungehorsamen Schüler. Im selben Mass, in dem er einem bisher unwissenden, heidnischen Publikum die Essenz biblischer Gedanken als eigene Botschaft verkündete, vollzog er die Abgrenzung von Juden und Christen, denen er sie verdankte. In Sure 2, Vers 59 wird Juden und Christen zwar noch zugestanden, dass sie an der göttlichen Gnade teilhaben können, sofern sie „an Gott und den Letzten Tag glauben“, doch schon in Vers 107 der selben Sure – nach einer summarischenDarstellung des Zerwürfnisses zwischen Christen und Juden – wird beiden die Berechtigung abgesprochen, die Orte des Gebets zu Gott überhaupt noch aufzusuchen, da sie diese für die Anhänger der wahren neuen Lehre blockierten und zerstörten. (19)
Sure 2, Vers 110 verwirft gezielt das christliche Konzept vom Gottessohn. Sure 5 setzt sich mit den Juden auseinander, die frühere Inhaber der Lehre und „Volk des Buches“ genannt werden, jedoch durch Ungehorsam Gott erzürnt hätten, und kommt in Vers 85 zu dem Ergebnis: „Du wirst mit Sicherheit entdecken, dass die grössten Feinde der Gläubigen die Juden und die Götzenanbeter sind“. Juden und Götzenanbeter in einem Atemzug zu nennen, soll in Anbetracht der aus der Bibel bekannten jüdischen Aversion gegen Götzenkulte eine besondere Kränkung darstellen. In Vers 56 derselben Sure werden die Christen in das verächtliche Verdikt einbezogen: „Oh Gläubige, nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freunden, denn sie sind untereinander befreundet. Wer sie zu seinen Freunden macht, wird einer von ihnen“.
Dass die Abgrenzung von den früheren Inhabern „des Buches“ einen Akt der Besitzergreifung darstellt, gibt Vers 62 zu erkennen: “Oh Gläubige, nehmt euch niemals die zu Freunden, denen das Buch vor euch gegeben wurde, und die Ungläubigen, die eure Religion mit Spott bedenken“. Die Religion des Buches ist also bereits „eure“, nämlich in den Besitz der Anhänger Mohameds übergegangen, während ihre früheren Eigentümer von nun an „Ungläubige“ sind. Sure 48 (betitelt „Sieg“) erklärt Torah und Evangelien bereits zu Büchern, in denen die Anhänger Mohameds dargestellt würden (Vers 29). Auch einzelne Gestalten wie Stammvater Abraham werden dieserart übereignet, Sure 3, Vers 60 erklärt, er sei „weder Jude noch Christ, sondern Muslim“. Der Prozess der eigenen Selbstaufwertung auf der Grundlage einer Schmähung von Juden und Christen ist von nun an ein Leitmotiv des Koran. Als Legitimation wird angegeben: „Denn sie sind ein Volk ohne Verstand“. (20)
Der Verurteilung der früheren Völker der Bibel folgte ihre im Koran geforderte Bestrafung. Noch zu Lebzeiten liess Mohamed alle Juden der Stadt Medina niedermetzeln, weil sie sich weigerten, ihn als den Propheten Gottes anzuerkennen. Allmählich breiteten sich die islamischen Glaubenskrieger im Mittleren Osten aus. Mohameds Version der monotheistischen Botschaft gab den nomadischen Beduinenstämmen der arabischen Wüste eine Selbstgefühl schaffende, einende Identität. Jahrhunderte lang hatten sie sich gegenseitig bekriegt und vernichtet, hatten sie raubend, plündernd, um Wasserstellen und Weideland kämpfend die arabische Halbinsel durchstreift, in einem Zustand, den die islamische Tradition jahiliya nennt, „das Zeitalter der Ignoranz“. (21)
Durch die Lehre vom Einen Gott geeint, erwiesen sich die vordem verstreuten Nomadenstämme als unschlagbar. Schon wenige Jahre nach Mohameds Tod eroberten sie erste Gebiete des römischen Imperiums, 634 die Byzanz vorgelagerte Festung Bosra, dann die grossen christlichen Städte des Ostens, Damaskus, Aleppo, Antiochia, nach der Schlacht am Yarmok ganz Syrien, wenig später, 637 oder 638, Jerusalem, von dort aus die Küste der römischen Provinz Palästina. Sodann Alexandria und Ägypten, das östliche Mittelmeer und Nordafrika, wodurch schon wenig später die islamische Invasion gegen Europa selbst, die spanische Halbinsel, Süditalien und Frankreich, möglich wurde.
Kaum jemand in Europa hatte die Gefahr bemerkt. Weder die Entschlossenheit der islamischen Glaubenskrieger noch die integrierende Wirkung der Predigten Mohameds, die aus dem komplizierten, detaillierten, nur für Schriftkundige verständlichen Buch der Juden und Christen eine Kraft des absoluten Gottesgehorsams und „heiligen Kampfes“ werden liessen, ein verheerendes Potential, scheinbar aus dem Nichts erwachsen, aus einer desolaten Randprovinz des Reiches, Arabia deserta, die Römer und Europäer bis dahin keiner ernsthaften Betrachtung für wert erachtet hatten. Bis ins Mittelalter nahm die europäische Literatur Mohamed kaum zur Kenntnis, obwohl die Wirkung seiner Lehre überall spürbar, das Mittelmeer von seinen Flotten kontrolliert, ein Teil Europas von seinen Heeren besetzt war. Ein 1260 erschienener französischer Roman de Mahomet zeichnet ihn als Schwindler und Scharlatan, Dantes Divina Commedia um 1320 als „Antichrist“. Erst Goethe, Ende des 18.Jahrhunderts, versuchte einen differenzierteren Zugang zu dieser für Europas Schicksal so folgenschweren Figur. (22)
Für Mohamed bestand die Ironie der Geschichte darin, dass die innere Zerrissenheit der christlichen Sphäre, die er für den Aufstieg seines religiösen Konzepts so erfolgreich zu nutzen verstand, wenig später auch das Schicksal seiner eigenen Bewegung wurde. Die von ihm erstrebte Einigkeit der Muslime hielt nur kurze Zeit. Schon mit seinem Tod und den Auseinandersetzungen und Kriegen um seine Nachfolge begann sich die neue Religion zu spalten und in Fraktionen zu zerfallen, die einander bis heute blutig bekämpfen.
Text-Struktur und –konsistenz: Der Koran ist ein Monolog. Er besteht aus 114 Suren oder Gesängen in Versform. Es gibt nur einen einzigen Sprecher, den Propheten Mohamed, der die göttliche Wahrheit zu besitzen erklärt und sie einem schweigenden Publikum mitteilt. Der Koran unterscheidet sich daher generell von der Bibel, die viele literarische Formen, zahlreiche Sprecher und immer andere Erzählweisen kennt.
Die biblischen Darstellungsweisen betonen, schon durch ihre textliche Strukur, den Dialog, die Interaktion zwischen verschiedenen Grössen. Zunächst zwischen der erschaffenden Urkraft elohim und der zu gestaltenden Materie, dann zwischen den Menschen und ihrem Schöpfer, den Juden und ihrem Gott, später, auch in den Evangelien, von Juden untereinander. Es ist sozusagen das dualistische Prinzip des Monotheismus. Denn Monotheismus ist nicht zwangsläufig Monismus: immer wieder in der Bibel ist das Aufweisen und Überwinden von Widersprüchen – bis hin zum offenen Streitgespräch – die vorgeführte Methode der Erkenntnis- und Wahrheitssuche, in den Mosaischen Büchern, bei den Propheten, im Buch Hiob, im Kohelet, in der Sammlung der Sprüche oder in den zahlreichen Debatten des Neuen Testaments. Wegen dieser ungleich komplizierteren Textstruktur ist die Bibel das mit weitaus mehr Mühe zu rezipierende der beiden Werke.
Aus Judäa vertriebene Juden lebten in Mohameds Tagen seit rund einem Jahrtausend in Babylonien, arbeiteten dort, hielten die in der Bibel gebotenen Gesetze, studierten und lehrten. Zudem gab es zahlreiche christliche Gemeinden in der Region, die grossen Städte waren oft Bischofssitze. Viele Beduinen der arabischen Halbinsel gerieten unter den Einfluss der Bibel. Unter dem Namen allah, abgeleitet vom alten hebräischen Gottesnamen al (23), wurde ein alleiniger, allvermögender Ein-Gott angebetet, ein Welterzeuger und Weltgebieter. Um 610 begann auch Mohamed, ein Sohn des Beduinenstammes Koresh, öffentlich als Prediger für diesen Gott zu wirken.
Lassen wir die Angabe des Hadith, er sei Analphabet gewesen, einmal dahingestellt, so ist zumindest unzweifelhaft, dass sein Publikum zum grössten Teil analphabetisch war. Mohamed erwies sich als begnadeter Multiplikator in einer vorwiegend auf mündliche Weitergabe angewiesenen Umgebung, als Poet, Erzähler, Verdichter komplizierter Zusammenhänge zu kurzen prägnanten Sprachformeln – die entscheidende Begabung, um eine ganz auf orale Rezeption angewiesene Zuhörerschaft zu gewinnen. Ein für öffentliche Deklamation und akustische Aufnahme bestimmter Text muss sich, um wirksam zu sein, in Struktur, Wortwahl und Diktion von einem für stille Lektüre geschriebenen unterscheiden. In der Umsetzung des in der Bibel geschriebenen in einen gesprochenen Text lag auch eine entscheidende inhaltliche Transformation.
Der sprechend Repetierende und Nacherzählende kleidete biblisches Gedankengut in Geschichten, Gleichnisse, poetische Bilder, und er tat es vor allem unter dem Gesichtspunkt, sie beim ersten Zuhören verständlich zu machen. Anders als die Rabbiner oder christlichen Priester konnte er bei seinen Rezipienten kaum Vorkenntnisse der biblischen Texte voraussetzen, er musste diese, wo zum Verständnis unerlässlich, gleichsam miterzählen, wodurch sich der Text seiner Predigten nicht selten auf mehreren Ebenen zugleich bewegt, zwischen denen die sprechende Stimme – nicht selten unvermittelt – hin- und herspringt.
So erzählt er in Sure 20 die Geschichte von Moses, von der Eröffnung am brennenden Dornbusch bis zum Auszug aus Ägypten, eine gewaltige Stoffmenge, für die der hebräische Originaltext mehr als dreizehn Kapitel, mehr als ein Viertel des zweiten Buches Mose, braucht. (24) In Mohammeds Version umfasst die Geschichte kaum siebzig Verse. In dieser komprimierten Nacherzählung bringt er noch eigene Interpretation unter, auch ferner liegende topoi, etwa Seelenwanderung (Vers 58), oder führt spätere Termini ein (wie das jüdische Konzept der gehena, Vers 75-80, eine talmudische Bezeichnung für Unterwelt oder Hölle, deren Verwendung Mohameds Kenntnis rabbinischer Literatur belegt).
Mohameds Vortragsstil poetischer Verdichtung und Verkürzung, durch welchen Zusammenhang und Informationsgehalt des Textes Einbusse erlitten, mag Widerspruch von Seiten jüdischer und christlicher Schriftgelehrter ausgelöst haben, was zwischen ihm und diesen einen Bruch hervorrief und allmählich vertiefte. Langwierige, in den Mosaischen Büchern ausführlich abgehandelte Gesetzestexte offerierte er als formelhaftes Konzentrat. So werden in Sure 4 des Koran unter dem Titel “Frauen” die in den mosaischen Büchern über mehrere Dutzend Seiten ausführlich behandelten Gebote für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in nur wenigen radikal verdichteten Strophen zusammengefasst. Aus solcher Verdichtung ergibt sich jedoch ein wirksamer Nebeneffekt für den mündlichen Vortrag: sie trifft den Hörer bei öffentlichem Lesen mit einer fast benommen machenden Eindrücklichkeit und sprachlichen Wucht.
Sure 4, „Frauen“, zeigt, wie der inspirierte Prediger Mohammed die oft schwierigen Gegebenheiten – vor allem das beschränkte Verständnis seiner schriftunkundigen Zuhörerschaft – nicht als Behinderung, sondern als Herausforderung zur Entwicklung wirksamer Vermittlungstechniken verstand. Man liest Mohammeds Predigten bis heute mit nicht nachlassender Faszination. Ihre Zusammenfassung in Buchform – um 653 auf Geheiss des Kalifen Othman – führte zu einem hochgradig komprimierten, leidenschaftlich poetischen Text. Sein auffälligstes, auf den ersten Blick sichtbares Merkmal ist das auch aus dem biblischen Text bekannte leitmotivische, nicht selten rhythmische Wiederholen suggestiver Wortgruppen und Metaphern. (25) Diese Wiederholungs-Technik hat sowohl text-kompositorische als auch Gemeinsamkeit stiftende Wirkung, indem sie den Textkörper schon auf den ersten Blick unterteilt oder gliedert, zudem in gewissen Abständen daran erinnert, dass Autor und Leser beziehungsweise Sprecher und Hörer ex compositio ein gemeinsames Anliegen zusammenführt.
Anders als die meisten biblischen Bücher ist Mohameds Textkörper im arabischen Original in einer „Quasi-Vers-Form“ gehalten, „in einem ungehinderten und irregulären Fluss der Zeilen“. (26) Das Werk, das später durch Niederschreiben der gesprochenen Predigten entstand, heisst Koran, “das zu Lesende”, eine Wortbildung, deren Nähe zum biblischen Wort für lesen oder ausrufen, dem hebräisch-aramäischen kara (kuf-resh-alef) offensichtlich ist. Im Wesentlichen übernahm Mohamed die gesetzlichen Forderungen seines Koran den Fünf Büchern Mose. Doch je ausführlicher er seine Lehre ausarbeitete, je mehr Material er folglich der Bibel entmahm, um so grösser wurden auch seine Abweichungen. Sei es, dass ein beträchtlicher Teil der von den Rabbinern exegetisch aus dem Text ermittelten Gebote (hebräisch mizvot) Mohammeds Publikum und Anhängerschaft schwer zu vermitteln war – schon weil es sich um nomadisch lebende Wüstenbewohner handelte, die nicht lesen, mithin die Lehre nicht selbst studieren konnten –, sei es, dass Mohammed Einzelheiten im Sinne besserer Deklamierbarkeit und
Eingängigkeit für verzichtbar hielt: er reduzierte Gebote in sinnverändernder Weise. Er übernahm etwa das Verbot, vom Fleisch bestimmter Tiere zu essen (darunter des Schweins), nicht aber den allgemeinen Kontext der mosaischen Bücher über die Zubereitung von Speisen und das Behandeln von Lebensmitteln, das umfassende, in der Torah ausführlich ausgearbeitete und begründete System der Reinheitsgebote, die sogenannten kashrut.
Neben solcherart Vereinfachungen adaptierte er Elemente in seine Lehre, die mit jüdischen und christlichen Konzepten der Welt unvereinbar sind, etwa das Paradies als Ort des Sinnenrauschs und irdischer Vergnügungen, das generelle Verbot Wein zu trinken oder die sprachliche Suggestion seiner, Mohammeds, eigenen Gottnähe. (27) Mohamed oder die Aufzeichner seiner Predigten fügten dem stets wiederholten Satz “Es gibt keinen Gott neben Allah“ die stehende Formel hinzu „Und Mohammed ist sein Prophet“, eine Assoziation, die nahe legt, dass er der einzige, der endgültige sei.
Der Koran besteht aus Gesängen, deren Name sura oder sure auf den ersten Blick die Nähe zum biblischen Wort shira (Lied, Gesang, Gedicht) erkennen lässt. Ein grosser Teil dieser Suren ist nichts anderes als die Wiedergabe biblischer Erzählungen, unterbrochen von didaktischen Hinweisen, Aufforderungen zur Andacht und leitmotivischen Erinnerungen an die lenkende Allmacht des „Gnadenreichen“, „Mitleidigen“, „Alleinigen“ – Gottesattribute, die allesamt der Bibel entnommen sind. (28) Von den Suren, die nichts anderes sind als Nacherzählungen biblischer Texte, sei Sure 12 erwähnt, eine Repetition der biblischen Josefs-Geschichte in Versform, vereinfacht für Zuhörer, die zum ersten Mal – und mündlich – mit ihren nicht immer leicht aufnehmbaren Wechselfällen konfrontiert werden sollen.
Eine Besonderheit von Mohammeds Vortrag mögen die krampfartigen Zustände gewesen sein, die ihn in visionärem Zustand befielen (29) und die von seinen Zuhörern in Ehrfurcht abgewartet wurden. Man wertete sie als Augenblicke der Inspiration, der höheren Beseeltheit, des Empfangens der Botschaft. Sie können einer der Gründe für den in manchen Suren auffallend abrupten, verwirrenden Wechsel des Themas, der Stimmung, des Erzähl-Duktus sein, für die oft erstaunlichen Abweichungen von einem „plausiblen“ Erzählverlauf, die von den Augenzeugen als Zeichen göttlicher Inspiration betrachtet und in der späteren Niederschrift beibehalten wurden. Doch ohnehin gehört eine gewisse “Sprunghaftigkeit” („the sudden change in style and subject-matter“) zu den Charakteristika alt-arabischer Poesie. Morris Seale sieht darin “Spuren nomadischer
Mentalität“ („traces of nomadic mentality“). „Solche abrupten Übergänge sind typisch für die arabische Dichtung. Man findet in ein und demselben Gedicht die Beschreibung des Lieblingskamels (…) oder den schwelgerischen Lobpreis des Patrons unmittelbar gefolgt von pythischen Sprüchen oder Spruchweisheiten.“ (30) Daher wirken die bereits aus der Bibel bekannte Geschichten, Erzählungen, Lebensläufe im Koran oft verblüffend andersartig.
“The Suras”, findet der englische Arabist Arthur J.Arberry, „are not arranged in any chronological order”. (31) Durch das Fehlen der bekannten Chronologie und sinnvollen Anordnung könne beim europäischen Leser „perplexity“ ausgelöst werden. Der Koran ist nach abendländischem Verständnis eindeutig ein Werk der Dichtkunst, eher inspirativ und irrational gewachsen als in absichtsvoller Systematik. “Der grösste Dichter bist Du, oh grosser Prophet von Mekka…”, schrieb Heinrich Heine. Einige Jahrzehnte später schildert ihn Rilke als Analphabeten und „innen verwirrten Kaufmann“. (32)
Im Koran sind Zusammenhang schaffende Text-Merkmale zahlreich, aber unstet vorhanden. Selbst die zuvor festgestellte Neigung zu Kürzung und Vereinfachung ist kein sicheres Merkmal und nicht durchgehend zu finden: ebenso gern wie der Verfasser manche Zusammenhänge bis zum Kaum-noch-Nachvollziehbaren komprimiert, dehnt er andere zu unerwarteter Breite aus. Das betrifft die schon erwähnte Schilderung eines versprochenen Paradieses in den Suren 55 und 76, wo alle Genüsse eines Lebens nach dem Tode in einer diesem Textwerk sonst unbekannten Übergenauigkeit aufgeführt sind, etwa „Sofas, in Brokat gefasst, von denen sich die Früchte des Gartens pflücken lassen“, „Mädchen, keusch die Augen niederschlagend, da kein Mann oder Dshin sie bisher berührt hat“, „Huris, abgeschieden in kühlen Pavillons“, „Rubine und Korallen“, „Fontänen rinnenden Wassers“, „Kristallkelche“, „grüne Kissen und betörende Schlummerecken“ (33)
Ohnehin ist einer der am häufigsten erhobenen Einwände gegen Mohameds Botschaft – zumal in unseren Tagen – der unbestreitbare Tatbestand, dass ihre Adressaten, die mit „ihr“ angeredeten Empfänger des Textes, ausschliesslich Männer sind. Hier soll der Koran als literarischer Text interessieren, nicht als sexologisches Studienobjekt. Das Männerparadies des Koran, die „immerjungen Mädchen“ und „Fontänen von Wasser“, sind Beleg für die stilistischen Mittel, mit denen der Text arbeitet und die im Lauf der Jahrhunderte in der abendländischen Literatur – in unzähligen Gedichten, Kunstmärchen, Romanen, Opern und Hollywood-Filmen – zu dauerhaften Stereotypen in Verbindung mit der arabischen Halbinsel erstarrt sind.
Ausser dem didaktischen Mittel des Versprechens und der Verheissung benutzt der Koran noch andere: Warnung, Drohung, Ankündigung von Strafe. Einiges davon war Mohammed aus biblischen Texten bekannt, erfuhr jedoch in seinen Predigten eine deutliche Verschärfung. Das harte Nebeneinander sanft gewinnender und aggressiv-polemischer Passagen wurde zum stilistischen Prinzip, da der Koran ein Buch der Abgrenzung ist, der Verurteilung und Bestrafung derer, die sich zuvor der Botschaft als nicht würdig erwiesen haben, und der Belohnung derer, die dem Propheten zu folgen bereit sind. Die üppigen Darstellungen vom Paradies erweisen sich als notwendiger kompositorischer Ausgleich in einem Text, der auf dieser Welt vor allem eines fordert: absolute Unterwerfung. „Es ist ein Weg des Gehorsams“, schreibt Rosenzweig. „Das unterscheidet ihn, mehr als sein Inhalt, von der Liebe des Nächsten“. (34) Sure 46, betitelt „Die Sanddünen“, erinnert zum wiederholten Mal an ein antikes Volk namens Ad, das zur Strafe für seinen Ungehorsam in der Wüste vertilgt wurde: „Da erblickten sie plötzlich eine Wolke von Staub sich dem Tal nähern, darin sie lebten…“ (35)
Interessant ist die Verwendung von „Staub“ als Metapher für Tod. Sie mag als Beispiel dafür dienen, wie der Text des Koran, obwohl inhaltlich von der hebräischen Bibel inspiriert, stilistisch und metaphorisch der Empfindungswelt seines Sprechers und seiner Rezipienten verhaftet bleibt, der von geborenen Wüstenbewohnern. Im Gebrauch elementarer Metaphern in beiden Texten – Bibel und Koran – zeigt sich in seltener Deutlichkeit, wie verschieden die Hebräer von ihren arabischen Nachbarn sind. Für das Volk der Bibel ist Wüste ein nur vorübergehend erfahrener Ort, während die Zuhörerschaft Mohameds aus der Wüste stammt, von ihr geprägt, ganz autochthones Wüstenvolk ist. Anders die Hebräer, die niemals ihre Herkunft aus der urbanen Hochkultur Mesopotamiens abstreifen konnten, selbst in der Wüste nicht: ihr Sinn blieb auch dort auf Organisation und Regulierung gerichtet, auf ein Gestalten und Urbarmachen, letztlich auf Rückkehr in eine aus früherer Zeit erinnerte landwirtschaftliche Gesellschaft. Niemals können sie in der Wüste jenes Unentrinnbare und Schicksalhafte sehen wie die alten nomadischen Wandervölker.
In der Metaphernsprache der Bibel ist somit auch „Staub” kein Symbol für Tod, vielmehr für sein Gegenstück: für irdisches Leben. Aus „Staub“, hebräisch afar, ist in der biblischen Schöpfungsgeschichte der Leib des Menschen gemacht. (36) Man kann diese Substanz als Symbol irdischer Schwere verstehen, des Gebundenseins der unsterblichen Seele in ein materielles Gefäss, doch erst durch diese Einbindung in einen seine Flüchtigkeit hemmenden Körper aus „Staub“ wird der Mensch der biblischen Schöpfung, der adam, auf dieser Erde lebensfähig. Das Verb jazar, das die hebräische Bibel für den Vorgang der Formung des „Staub-Menschen“ verwendet, ist das selbe wie für Töpfern, eine der ältesten produktiven Leistungen des Menschen. Noch im zwanzigsten Jahrhundert empfindet der hebräische Dichter Jehuda Amichai Staub in diesem Sinn: „Dieser Staub ist wie wir“, heisst es in einem seiner Gedichte (37), und das „wir“ meint irdisches, alltägliches Leben.
Hingegen ist “Staub” für die Völker der Wüste ein Schrecken erregendes, todbringendes Phänomen, schon durch die Mensch und Tier bedrohenden, jäh ausbrechenden Sandstürme. Strophe 23 der zitierten Sure 46 „Da erblickten sie plötzlich eine Wolke aus Staub…“ bestätigt die Vermutung, dass ein Sandsturm für das apokalyptische Verschwinden des Volkes Ad als Metapher dient. Im Textwerk der fünf mosaischen Bücher finden wir ein solches Ereignis nirgendwo erwähnt. Ad ist ein uraltes aramäisches Wort, das so viel heisst wie Ewigkeit, ewiges Geschehen, in einer zweiten Bedeutung auch Raub oder Beute. Ein aus Mohameds Sicht ungehorsames Volk wird Beute des „Sandes“, einer aus der Wüste aufsteigenden tödlichen Kraft. Eine Metapher des Koran, mehrdeutig, erschreckend vor dem Hintergrund des Schicksals der Kopten, Nabatäer, christlichen Syrer, Juden und vieler anderer Völker, die dem gewaltigen Ansturm im Wege waren.
Auch diese Sure zeigt, dass wir es beim Koran mit einem Werk grösster Ausdruckskraft zu tun haben, von eben jener Kraft, die nötig war, um seit Jahrhunderten durch die Wüste wandernde Beduinen zu beeindrucken, zu fesseln und zu gemeinsamer Aktion zu bewegen. Die expressionistische Ausprägung ist für sofortige Wirkung auf Zuhörer bestimmt, sie zeigt sich sowohl in Bildern paradiesischer Verheissung wie solchen angedrohter Strafe und Vernichtung. In dieser letztgenannten Wirkung, der Erweckung von Gemeinsamkeit unter den seit Menschengedenken in blutigen Stammesfehden Verfeindeten, lag die grosse soziale Leistung des Koran. Dieses religiöse Poem ist ein Beispiel dafür, welche ungeheure Wirkung ein literarischer Text erlangen kann. Die von ihm stimulierten Glaubenskriege führten verstreut in der Wüste lebende Stämme unter dem Banner einer gemeinsamen Religion zusammen, mehr noch: hielten sie zusammen durch Jahrhunderte, bis ein Weltreich entstanden war, das von der arabischen Wüste bis nach Nordafrika, von Asien bis Westeuropa reichte, und dessen militante Wiedererweckung uns bis heute beunruhigt.
Die für Europäer ohnehin schwierige Rezeption des Koran wird nochmschwieriger durch die nicht gesicherte Eindeutigkeit des Textes. Bis heute variieren seine „Lesarten“ (tafsir al koran) so erheblich, dass bereits das Lesen des Textes eine erste Interpretation darstellt. (38) Nicht nur Aussenstehende, auch Muslime können in vielen Fällen keine Einigung erzielen, wie ein bestimmtes Wort zu lesen und zu sprechen ist, folglich, welche Bedeutung es hat. „Es gibt keinen uniformen Koran-Text“, schreibt Ignaz Goldziher in seinem Standardwerk „Die Richtungen der Islamischen Koranauslegung“ von 1920. „Der schon an sich (…) nicht einheitliche textus receptus, die lectio vulgata (al kira’a al mashhura) des Koran geht auf die Redaktion zurück, die durch die Bemühungen des dritten Kalifen, Othman, zustande kam, um der drohenden Gefahr vorzubeugen, dass das Gotteswort in verschiedenen Kreisen in textlich voneinander abweichenden Formen überliefert würde (…) Jedoch diese Bestrebung ist nicht auf der ganzen Linie gelungen.“ (39)
Unter den Ursachen für die Mehrdeutigkeit des Textes sind sprachliche, vor allem die „Eigentümlichkeit der arabischen Schrift, in der dasselbe grafische Skelett je nach der Verschiedenheit und der Anzahl der über oder unter dasselbe gesetzten Punkte verschiedene Lautwerte darstellt und wo auch bei gleichen lautlichen Werten die Verschiedenheit der in der ursprünglichen arabischen Schrift fehlenden Vokalbezeichnung eine Verschiedenheit der grammatischen Situation eines Wortes und, in Zusammenhang damit, in der Bedeutung desselben hervorruft.“ (40) Hinzukommen zahlreiche andere Gründe für die Strittigkeit einzelner Worte und Passagen des Koran-Textes, nicht zuletzt politische. So hat die shiitische Richtung des Islam seit der frühesten Zeit ihres Auftretens die Integrität der othmanischen Textgestaltung bezweifelt und abgelehnt. Diese enthalte, behaupten die Shiiten, gegenüber dem echten Koran Mohameds unzulässige Änderungen und Zusätze, während andere Passagen des authentischen Textes durch Weglassung getilgtworden seien. (41)
Allerdings können sich auch die Shiiten nicht auf einen „von ihnen bedingungslos anerkannten und integren Korantext“ einigen (42), daher nichts zur Überwindung des Problems beitragen. Der inner-islamische Krieg um die Nachfolge des Propheten, begonnen im siebenten Jahrhundert, hat bis heute kein Ende gefunden. Er nährt sich aus dem unheilbaren Schisma, das bereits mit der jeweils für heilig erklärten arabischen Fassung des Korantextes beginnt und seit Jahrhunderten ein unerschöpfliches Potential für inner-islamische Spaltung, Sektenbildung und politischen Fraktionalismus darstellt, einen Vorwand für Kriege und blutige Gewalt. Letztlich lassen sich inner-islamische Kämpfe im Mittleren Osten, wie sie heute etwa zwischen Shiiten und Sunniten im Irak oder dem shiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien in einer die ganze Region entflammenden Erbitterung und Grausamkeit ausgebrochen sind, bei Bedarf immer auf diese Jahrhunderte alten Uneinigkeiten in der Textfassung zurückführen. Der inner-islamische Hass ist zuweilen stärker als der auf die „Ungläubigen“.
Die Unfähigkeit der islamischen Fraktionen, sich auf eine verbindliche Textfassung zu einigen, deutet auf eine gering entwickelte Kultur der Konsensfindung, eine geringe Bereitschaft zu sinnvollen Kompromissen, die sich auch auf andere Bereiche des Lebens auswirken muss. Morris S.Seale, mit seinem anthropologischen Ansatz, führt diese Schwäche auf die bis heute spürbare nomadische Prägung des Islam zurück: „Um in der Wüste überleben zu können, musste der Nomade zu jeder Zeit Stärke beweisen, allzeit bereit sein, seine Rechte und seine Ehre zu behaupten, und durfte niemals einen Hauch von Moderation oder Kompromiss sichtbar werden lassen, die als Schwäche hätten ausgelegt werden können (…) Es war die Philosophie (der Wüste) zu morden oder gemordet zu werden, zu rauben oder der Beraubte zu sein.“ (43)
Rosenzweigs Beobachtung von der Darstellung der Schöpfung im Islam als „freie, unnotwendige Tat der göttlichen Willkür“ (44) findet ihre symbolische Entsprechung in einer für unsere Begriffe willkürlichen Behandlung des arabischen Textes. „Wir dürfen aus den Erfahrungen derselben die Folgerung ziehen“, schreibt Goldziher, „dass in Bezug auf die Konstituierung des heiligen Textes im alten Islam eine weitherzige (…) Freiheit geherrscht hat, als ob es den Leuten ganz gleichgültig gewesen sei, den Text in einer seinem Urbild völlig adäquaten Form zu überliefern.“ (45) Er zitiert in diesem Zusammenhang einen der Schreiber Mohameds, Abdallah bin Abi Sarh, über die weitgehende Willkür, die bereits jene ersten Aufzeichner walten liessen: „Ich konnte ihn (den Text – Ch.N.) dahin wenden, wohin ich es wollte.“ (46)
Es handelt sich wohlgemerkt nicht um Auslegungen oder später durch Übersetzungen entstandene Probleme, sondern um den „heiligen Text“ selbst, in der laut Koran originalen Sprache, Arabisch, über den keine wirkliche Klarheit und Einigung erzielt werden kann. In diesem „Bild des Schwankens und der Unsicherheit“ (47) liegt eine immense Gefahr, zugleich auch eine Hoffnung. Die Gefahr ist die Verfügbarkeit dieses religiösen Textes für extremistische, kriegerische, inhumane Anwendungen. Die Hoffnung ist andererseits, dass der niemals verbindlich kanonisierte Text auch immer moderate Lesarten zulässt. Da sie sich aus der Uneindeutigkeit des Koran-Textes selbst ergeben, enthalten sie eine ewige, auch von den Extremisten niemals zu beseitigende Möglichkeit, von der zu hoffen ist, dass sie sich eines Tages innerhalb der islamischen Bewegung
durchsetzen wird.
Für die Bibel besteht ein solches Problem nicht – dank der Arbeit der masoretischen Schriftgelehrten in den letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende. Spätestens seit der Synode von Javneh um 90 unserer Zeit ist der hebräische (in einigen Abschnitten aramäische) Original-Text in bis heute verbindlicher Eindeutigkeit fixiert. Bereits seit dem dritten bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert existiert auch eine von Juden verfertigte, weithin verbindliche, später von den Christen übernommene griechische Übersetzung, die Septuaginta (in die auch einige nicht-masoretische Texte aufgenommen wurden, die sogenannten Apokryphen). Sie liegt in der leicht bearbeiteten Version des Origines, der Hexapla, den meisten späteren Übersetzungen zugrunde (insgesamt soll die christliche Bibel in 1750 Sprachen übersetzt worden sein), auch der lateinischen Vulgata-Fassung des Hieronymus, die für die katholische Kirche verbindlich ist. Einen eigenen Weg ging die syrische Kirche, die im Aramäischen blieb und einer aus dieser Sprache kommenden, peshita („die Einfache“) genannten Fassung folgt.
Unbestreitbar hat es auch im Judentum verderblichen Fanatismus gegeben und im Christentum Kreuzzüge, Hexenwahn und Inquisition, aber erstens sind solche Missbräuche nicht durch den biblischen Text selbst geboten, zweitens hat, wo das Missverständnis lebensgefährlicher Interpretation im biblischen Text bestehen mag, die über Jahrtausende gewachsene Text-Betrachtung dem biblischen Kanon ein ergänzendes Gesetzeswerk von Adaptionen, Diskussionen und Spezifizierungen zur Seite gestellt, „Zäune für die Torah“, wie man im rabbinischen Judentum sagt, die auch jeden Missbrauch des Textes ins Lebensbedrohliche verhindern sollen. (48) Die „mündlich überlieferte Torah“, die talmudische Literatur, besteht im Judentum gleichberechtigt neben der schriftlichen, dem sinaitischen Gesetz, wie für die Christen das „Neue Testament“ neben dem „Alten“ – zwei Wege einer fortwährenden textkritischen Betrachtung und Diskussion.
Derlei Text-analytische Ansätze sind im Islam traditionell behindert, trotz der oben geschilderten Unsicherheit des eigentlichen Wortlauts. Der Prophet selbst hat im Hadith vor derlei „Mutwillen“ gewarnt. „Der Koran sei nicht da“, zitiert Goldziher, „um an den göttlichen Text spekulative Tüfteleien anzuknüpfen, ‚einen Teil desselben mit dem anderen zu schlagen’. Da gelte vielmehr das Koran-Wort: Und wenn du solche siehst, die über unsere Zeichen grübeln, so wende dich von ihnen ab.“ (49)
Menschenbild: „Gott ist gütig gegen alle, und sein Erbarmen waltet über all seinen Geschöpfen“, heisst es in Psalm 145,9. In dieser Textstelle wird – stellvertretend für viele – das entscheidende Kriterium des biblischen Menschenbildes ausgesprochen: die Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Schöpfer. Das Volk der Bibel hält sich nicht für besser oder moralischer als andere Völker und Religionen. Die hebräische Bibel versucht nirgendwo, Israel zu glorifizieren. Eher im Gegenteil: alle seine Schwächen und Verfehlungen werden in einer Offenheit dargestellt, die nicht wenige Judenfeinde zu dem irrigen Eindruck verführt, es handle sich um ein schwaches, von seinem eigenen Gott „verworfenes“ Volk. Auch Mohamed, der seinerseits eine gänzlich andere Selbstdarstellung zelebrierte, verfiel dieser Täuschung.
Die „Erwähltheit“ des biblischen Volkes ist als Verpflichtung gemeint, als kritischer Anspruch an sich selbst, nicht als Erhöhung über andere. Der Text betont, dass die Flüchtlinge aus Ägypten, die am Berg Sinai das Gesetz empfingen, nur zu einem Teil Hebräer waren, zum anderen Teil Unterdrückte und Verzweifelte anderer Völker, die sich ihnen angeschlossen hatten, im hebräischen Original erev rav (50), a mixed multitude in der Übersetztung der King James Bible, fremdes Volk in der Luther-Bibel, und diese Fremden „stiegen mit Israel auf“, wie das Verb alah im Hebräischen wörtlich meint, sie nahmen das Gesetz an wie die Hebräer, und schon von daher ist das Sein und Wesen Israels seit seiner eigentlichen Geburtsstunde mit Fremden verbunden.
Den Fremden sollt ihr nicht bedrücken, heisst es immer wieder in den Mosaischen Büchern, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypterland. (51) Das Ägypten-Erlebnis wird leitmotivisch wach gehalten, als stehende Formel an prominenter Stelle, sogar im ersten der „Zehn Gebote“ – zur Erinnerung an eigene Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Das im biblischen Text allzeit angemahnte Bewusstsein eigener Fehlbarkeit macht das „Volk des Buches“ duldsam gegenüber denen, die „anders“ sind. Seit den Mosaischen Büchern betont das jüdischchristliche Konzept als essentiellen Bestandteil seines Wesens die Rücksicht auf die sonst Verachteten, zum einem die Fremden, zum anderen die Schwächeren im eigenen Volk. „Was ist der Inbegriff aller Religion und der Inbegriff der Gotteslehre selbst?“, fragt der jüdische Philosoph Hermann Cohen zu Beginn des 20.Jahrhunderts. „Liebe deinen Anderen, und du bezeugst, dass du Gott liebst. So hat (Rabbi) Hillel die Quintessenz der Religion einem Heiden gegenüber bezeichnet und so auch Jesus auf die Frage der Schriftgelehrten“. (52)
Diese für die Völker der alten Welt unübliche Wertschätzung des Anderen – gemeint im Sinne von „Anderssein“ – begann bei den Frauen. Die zunächst im ersten Buch Mose 3,16 ausgesprochene, von den frühen Völkern als „gottgewollt“ angesehene Superiorität des Mannes gegenüber der Frau wird schon wenig später im selben Buch für die hebräischen Patriarchen korrigiert. (53) Es gehört zum biblischen Verständnis der Schöpfung als eines immerwährenden, in ständiger Bewegung befindlichen Vorgangs, dass solche Entwicklungen möglich sind und im Text vollzogen werden. (54) In der Abraham-Sarah-Geschichte wird dem Stammvater von seinem Gott geboten, fortan auf seine Frau zu hören: „In allem, was dir Sarah sagt, höre auf ihre Stimme“. (55) Die Aufforderung erfolgt in derselben sprachlichen Formel – im Hebräischen sh’ma b kolah – mit der sonst geboten wird, auf das Wort Gottes oder seiner Sendboten zu hören. (56)
Von da an ist in der biblischen Welt die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes aufgehoben, zumindest in Frage gestellt. Wo sie dennoch gesellschaftliche Gepflogenheit blieb, konnte sie jedenfalls nicht mehr für „gottgewollt“ erklärt werden. Die Behauptung der Gottgewolltheit eines solchen Vorrechts wird in der hebräischen Bibel nirgendwo mehr erhoben. Zwei Stellen im Neuen Testament, in Briefen des Paulus, die einen Aufruf zur Unterordnung der Frau enthalten, berufen sich gleichfalls nicht auf Gottes Wort, sondern geben die Ansicht des Apostels wieder. (57)
Auch über den Fremden oder Andersgläubigen besteht nach biblischem Verständnis kein gottgewolltes Vorrecht des „Gläubigen“ – so wie kein gottgewolltes Vorrecht des Mannes gegenüber der Frau besteht. Beide Relationen werden oft im biblischen Text verknüpft, das Verhältnis zu den Fremden und das zu den Schwächeren im eigenen Volk, zu den Frauen und Kindern, den ökonomisch Abhängigen und Unfreien, meist in der Metapher ihrer ohnmächtigsten, schutzbedürftigsten Gruppe, der „Witwen und Waisen“. (58) Rabbi Shimeon ben Jizhak von Troyes weist in seinem Torah-Kommentar darauf hin, dass „Witwen und Waisen“ eine Chiffre für alle „Anderen“ ist, für alle, deren Machtlosigkeit die
Stärkeren dazu verführt, sie schlecht zu behandeln, davar mazui l’anotam. (59)
Im Besonderen wird in der Bibel das Verhältnis zu denen geregelt, die anderen Glaubens sind. Schon zu antiken Zeiten lebten sie zahlreich unter den Juden, als „dein Fremder, der in deinen Toren wohnt“ (60) und wurden (und werden bis heute) in jüdische Segenssprüche eingeschlossen, sogar in den Shabat-Segen. (61) Der gelegentlich vehemente Kampf (etwa des Propheten Eliahu oder Elias im Buch Könige) gegen fremde Götzenkulte galt immer nur Israel selbst, nicht anderen Völkern. Die biblische Toleranz gegenüber allen Andersgläubigen wird im Buch des Propheten Micha 4,5 verbindlich formuliert: „Mag jedes Volk im Namen seines Gottes wandeln, während wir im Namen unseres Gottes wandeln werden für immer“.
Das jüdische Toleranzgebot besteht unverändert bis in unsere Zeit, es war das Muster der antiken tolerantia, wie sie der Judenfreund Alexander der Grosse und der Judenfreund Julius Caesar in ihren Reichen zu installieren suchten, es ist auch das inspirierende Erinnerungsgut für die Toleranz der modernen westlichen Gesellschaft. Toleranz ist ein Kontinuum, an dem das biblische Judentum immer festgehalten hat, auch in Zeiten extremer Bedrückung durch andere Völker. Der Bund des biblischen Volkes mit Gott gilt nur für die, die durch Geburt darin einbezogen sind oder sich freiwillig anschliessen. Die übrige Menschheit mag andere Zugänge zu Gott oder Göttern finden, sie gilt als gerechtfertigt durch die noachidischen Gesetze oder die Disziplin ihrer jeweiligen Religionen. (62)
Unter Berufung auf andere Stellen der hebräischen Bibel (63) ermutigt das Neue Testament zu einer friedlichen Mission unter Andersgläubigen. Sie entwickelte sich aus ihren noch ganz auf inner-jüdische Mission bezogen Anfängen, etwa in Matthäus 10,5, zu jenem „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ am Ende desselben Evangeliums (28,19). Alle der Mission geltenden Textstellen im Neuen Testament meinen ohne Zweifel die Bekehrung von Individuen, nicht ihre massenhafte Unterwerfung oder das Erobern von Gebieten. Der Text der Evangelien äussert keine Drohungen oder Strafen gegenüber denen, die sich der Bekehrung entziehen. Missbräuche seitens der Kirchen ändern nichts an der ursprünglichen christlichen Idee einer spirituellen Überzeugungsarbeit ohne gewaltsamen Nachdruck.
Die Position von Gott geduldeter, sogar in die Gottesliebe einbezogener Fremder gibt es im Koran nicht. Der Begriff des Andersgläubigen ist dem Koran unbekannt, folglich gibt es auch keine Toleranz ihm gegenüber. Die Menschheit ist dort getrennt in Gläubige, denen die Gnade, Barmherzigkeit und Anleitung Gottes gelten, und Ungläubige, die nicht nur davon ausgeschlossen sind, sondern die der Gott des Islam in leitmotivischer Eindringlichkeit zu strafen und von der Erde vertilgen droht. (64) Zwar zitiert Sure 109, Vers 5, fast wörtlich das oben genannte biblische Toleranz-Edikt aus Micha 4,5, doch bleibt es leere Deklaration angesichts der permanent verkündeten Strafen gegenüber denen, die nicht mit Mohamed übereinstimmen.
Die Bestrafung soll sowohl durch seinen Gott erfolgen als auch durch die Muslime. Neben den zahlreichen Stellen im Koran, die von Gott auferlegte Strafen und Torturen für Ungläubige beschreiben, sei es in dieser, sei es in der kommenden Welt, gibt es auch die direkte Aufforderung an die Muslime, etwa in Sure 8 Vers 12: „Trefft sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab“. Oder den in Sure 4, Vers 105 ergehenden Aufruf zur Jagd auf Ungläubige: „Und lasst nicht nach, die Ungläubigen aufzuspüren.“ Auch ein Muslim, der sich ihrer erbarmt, ist strafwürdig, wie es zwei Verse später in derselben Sure heisst: „Rede nicht zu Gunsten der Betrüger, Gott liebt nicht den verwerflichen Verräter.“
Wo es keine von Gott tolerierten Andersgläubigen gibt und keine anderen Wege zu Gott als den des Islam, kann es auch keine Gleichwertigkeit der Menschen vor dem Schöpfer geben. Das Konzept des Koran vom menschlichen Zusammenleben ist eine klare, sozusagen heilige Hierarchie, eine Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen. Mensch erster Klasse ist nach Mohameds Lehre der gläubige muslimische Mann, neben ihm werden sowohl Frauen als auch Nicht-Muslime zu Menschen zweiter Klasse. Die Frauen werden es dadurch, dass im Koran die Gottgewolltheit der männlichen Superiorität wieder eingeführt wird, jene archaische Vorstellung der frühen Völker, aus welcher das Gesetz vom Sinai herauszuführen sucht. Die in der Bibel entwickelte Idee einer Gleichwertigkeit der Geschlechter wird von Mohamed nicht aufgegriffen, das in den mosaischen Büchern ausgearbeitete System zur Sicherung der Rechte der Frauen fast völlig ignoriert. In Mohameds Gesetz gilt eine Frau nicht einmal als selbständige juristische Person. Gott hätte, heisst es in Sure 4,38, den Männern Vorrang verliehen, auch das Recht, alle Angelegenheiten der Frauen zu bestimmen, und erwarte von den Frauen Gehorsam. Werde dieser verweigert, solle der Mann die Frau züchtigen. (Wörtlich heisst es sogar, dass eine Frau bereits dann von ihrem Ehemann zu züchtigen sei, wenn dieser auch nur befürchtet, sie könne widerspenstig sein, d.h. es genügt ihre potentielle Unbotmässigkeit). (65)
Die der Frau zugedachte Rolle beschreibt Sure 2, Vers 223: „Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu diesem Saatfeld, wann immer ihr wollt.“ Bereits die metaphorische Gleichsetzung eines Menschen mit einem Saatfeld, dem Inbegriff des Passiven, des Nährbodens und Schosses, aus dem neues muslimisches Leben hervorgeht, ist mit unserem Menschenbild unvereinbar. Sie wird noch übertroffen durch die Aufforderung zu vollständiger Willkür im Umgang mit dem zu passiver Hinnahme verurteilten Wesen. Nicht einmal so viel Recht soll der Frau gelassen werden, dass sie wenigstens den Zeitpunkt der männlichen Beiwohnung bestimmen darf. Nach westlichem Rechtsverständnis ist dieser Koran-Vers ein Aufruf zur Vergewaltigung. Die Metapher vom Saatfeld mit dem Zusatz „Wann immer ihr wollt“ ist die sprachliche Formel für völlige Entrechtung, in unseren Augen Enthumanisierung der Frauen.
Wie wenig eine Frau im Koran als Persönlichkeit und Einzelwesen verstanden wird, belegt der Umstand, dass einzelne Frauen – jenseits der Sammelbezeichnung al-nisa, Frauen – nicht in Erscheinung treten. Im gesamten Koran-Text wird nur eine einzige Frau namentlich erwähnt, und diese Einzige ist auch noch der Bibel entnommen: Maria, die Mutter Jesu. (66) Wenn man bedenkt, welche prominente Rolle Frauen in der Bibel spielen, als Prophetinnen, Königinnen, Führerinnen des Volkes, als Mütter und Partnerinnen, als Symbole der Tapferkeit, Klugheit und Retterinnen in der Not, welchen Reichtum an unvergesslichen Frauengestalten die Bibel entfaltet, Frauen, die über Juden- und Christentum hinaus im Kulturbewusstsein der Menschheit unverzichtbar geworden sind, dann vertritt der Koran, in dem es überhaupt keine Frauenfiguren gibt (ausser einer einzigen, der Bibel entliehenen) hier das diametrale Konzept zum biblischen.
Das Menschenbild des Koran ist kein freies, sondern ein hierarchisches, von vornherein politisch geprägtes. Die viel zitierte Toleranz islamischer Herrscher, etwa zur Zeit der Okkupation Spaniens, kann nur vor dem Hintergrund dieser Hierarchie verstanden werden. In islamisch beherrschten Ländern gibt es keine Toleranz unter Gleichen. Da der jihad, der Heilige Kampf, wie er der „Gemeinschaft der Gläubigen“ geboten ist, nicht primär die Missionierung der Ungläubigen zum Ziel hat, sondern die territoriale Ausdehnung des Reiches der Gläubigen, des dar alislam, verhält sich die herrschende muslimische Männerkaste, wenn das fremde Gebiet einmal erobert ist, weitgehend indifferent gegenüber den Unterworfenen. Diese müssen das Steueraufkommen des Gebiets erbringen und andere Kontributionen und Menschenopfer entrichten, wie etwa im Osmanischen Reich den Knabentribut, und solange sie es tun, lässt man sie weitgehend bei ihren Sitten und Gebräuchen.
Der Knabentribut (devsirme) ist ein Beispiel für die im Osmanischen Reich üblichen Opfer der unterworfenen Völker: “Alle paar Jahre gingen die Ottomanen in ein, sagen wir, serbisches Dorf und griffen sich dort die kräftigsten und klügsten Jugendlichen (…) In der Türkei absolvierten diese eine anstrengende sieben Jahre dauernde Ausbildung: schwere körperliche Arbeit zur Kräftigung ihrer Körper, Unterweisung im Islam und in der Türkischen Sprache. Jene, die sich in Sport und Kriegskunst hervortaten, wurden als Kadetten des Janitsharen- Korps ausgesucht, als ‚Männer des Schwertes’. Ihrer Familienbindungen beraubt, kannten sie keinen Interessen-Konflikt und waren loyal nur dem Sultan gegenüber.“ (67) Max Weber nannte eine auf Sklavendienst basierende Herrschaftsform folglich “Sultanismus”: “Im Sultanismus rekrutiert der Herrscher seinen Stab aus Ausländern und Sklaven. Weil diese in der Gesellschaft, die zu regieren sie helfen, wenig Rückhalt haben, sind sie auf die Gnade ihres Herrn angewiesen. Deshalb sind Ausländer und Sklaven die besten Werkzeuge für Willkürherrschaft.“ Nach M.Severy waren acht der Grosswesire von Sultan Suleiman geborene Christen, die man als Kindersklaven in die Türkei gebracht und zu Muslimen gemacht hatte. (68)
Doch die Ausbildung zu Werkzeugen des Herrschaftsapparates liess die herrschende muslimische Männerkaste nur wenigen angedeihen. Gegenüber der grossen Masse der Unterworfenen blieb sie, was deren Glauben betraf, relativ gleichgültig. Der Historiker Henry Pirenne nennt den wohl wichtigsten Grund: „Allah ist der Einzige Gott“, heisst es in seinem Buch „Mohammed and Charlemagne“, einem Standardwerk über die islamische Invasion Europas im 8.Jahrhundert, „und daher wäre es logisch, dass seine Diener (die muslimischen Männer – Ch.N.) es als ihre Pflicht verstehen, die Ungläubigen zum Gottesgehorsam zu zwingen. Was sie jedoch beabsichtigten war nicht, wie man denken könnte, deren Konversion, sondern ihre Unterwerfung.“ (69) Das vorrangige Interesse der Eroberer bestand in der Einführung der islamischen Zwei-Klassen-Ordnung in den eroberten Ländern, eines Systems von Tributzahlungen und Sklaverei. Massenhafte Konversion der Unterworfenen zum Islam hätte bedeutet, dass diese den gleichen Status erlangten wie ihre Eroberer, womit die religiöse Legitimation entfallen wäre, sie weiterhin rücksichtslos auszubeuten und als Sklaven zu halten.
Anders verhält es sich in nicht islamisch beherrschten Gebieten. Hier ist das Gewinnen von Konvertiten „eine permanente Pflicht“ des gläubigen Muslim, der individuelle Teil des Gebots vom jihad. (70) Solange die muslimische Männerkaste nicht die politische und militärische Herrschaft des Gebietes gesichert hat, zählt jeder einzelne Proselyt. Ob im Falle von Sklaven mit der Konversion notwendigerweise ihre Freilassung verbunden ist, bleibt unausgesprochen. Der Koran erwähnt die Möglichkeit „gläubiger Sklavinnen“ (Sure 2 Vers 220, Sure 4 Vers 29). Eine im Hadith festgehaltene Überlieferung des Abu Musa teilt mit, der Prophet hätte dem, der sie freilässt, „doppelten Lohn“ verheissen, was jedoch nicht notwendig bedeutet, dass Freilassung geboten war. (71) Auch solle man, so der Koran, Sklavinnen nicht zur Prostitution zwingen (Sure 24, 34).
Insgesamt bleiben die Angaben zum Umgang mit Sklaven im Koran spärlich und sehr viel unklarer als die Regulierungen der Bibel. Das Mosaische Gesetz bemüht sich, die lebenslange Sklaverei, eine sonst in der antiken Welt selbstverständliche Einrichtung, einzuschränken, wenn nicht zu unterbinden. Im Fall hebräischer Fronarbeiter gebietet ausdrücklich, diese spätestens im siebenten Jahr freizulassen und bei der Freilassung mit den Mitteln zu versehen, die ihnen einen selbständigen Start ermöglichen (5 Moses 15,12). Generell sollen Unfreie – ob im Land geboren oder fremd – human behandelt werden: „Du sollst dem armen und dürftigen Tagelöhner unter deinen Brüdern oder den Fremden, die in deinem Lande, in deinen Toren sind, den Lohn nicht vorenthalten. Am selben Tage sollst du ihm seinen Lohn geben, die Sonne darf darüber nicht untergehen.“ (5 Moses 24, 14). Der Eintritt eines Sklaven ins Judentum (ger zedek) führte automatisch zu der (in 2 Moses 21,2 und 5 Moses 15,12-18) gebotenen Freilassung. Entsprechend hielten es später die Christen in Rom. Besonders im Umgang mit kriegsgefangenen Frauen fremder Völker zeigt das Mosaische Gesetz eine dazumal einzigartige Rücksicht, indem es dem hebräischen Mann gebietet, diese entweder zu heiraten oder freizulassen (5 Moses 21, 11 ff.).
In den humanen Gesetzen gegenüber Unfreien und Fremden lag einer der revolutionären Aspekte, die den jüdischen, später christlichen Glauben so anziehend für die Sklaven des römischen Imperiums machten, welche ihm in grossen Scharen zuströmten. Dagegen schafft der Koran durch das „gottgewollte“ Privileg der Gläubigen gegenüber den Ungläubigen einen unangreifbaren Vorwand für das Prinzip lebenslanger Versklavung. „Mit dem Islam“, findet der deutsche Orientalist Hans-Peter Raddatz, „wird der Herrschaftsanspruch des Menschen über den Menschen welthistorisch reaktiviert“. (72)
Die im dar al islam „gottgewollt“ herrschende muslimische Männerkaste fühlt sich zur Unterwerfung aller Anderen von daher legitimiert, als sie selbst ihr Leben in
totaler Unterwerfung verbringt, unter den Willen Allahs, wie es im Wort islam zum Ausdruck kommt. Wegen der gebotenen Selbstaufgabe weiche das Menschenbild gläubiger Muslime grundsätzlich von westlichen Vorstellungen ab, stellt der Politikwissenschaftler Heinz Theisen fest, die Bestimmung der Muslime liege „nicht in der Selbstentfaltung, sondern in ihrer durch Allah gegründeten Vereinigung als Gleiche ohne sonstige Unterschiede. Der einzige prinzipielle Unterschied besteht in der Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen.“ (73) Ein besonders drastisches Beispiel für den Wegfall jeglicher Individualisierung im Koran-Text ist die schon erwähnte Abhandlung des Themas „Frauen“: ohne eine einzige Frau (mit der erwähnten Ausnahme Maria) als Person zu erwähnen oder auch nur mit einem Namen zu benennen.
Aus dem Verständnis bewusster Selbstaufgabe ergibt sich eine weitere Unvereinbarkeit des koranischen Konzepts mit dem biblischen: die Frage betreffend, ob dem Menschen von Gott die Freiheit der Entscheidung zugestanden wird. Schon frühe jüdische und christliche Quellen weisen auf diesen Unterschied zwischen biblischem und islamischem Denken hin, etwa der berühmte Dialog des Johannes von Damaskus mit einem Sarazenen, ein christlicher Text aus dem 8.Jahundert. Der Christ Johannes von Damaskus erklärt den biblischen Standpunkt, wie in 5 Moses 30, 19 dargelegt: dass Gott dem Menschen die „freie Wahl“ zwischen dem Guten und dem Bösen überlassen hätte. Darüber zeigt sich sein muslimischer Gesprächspartner erstaunt: nach seinem Dafürhalten sind alle Handlungen der Menschen, gute wie böse, bis ins Detail von Gott vorherbestimmt. Sein Erstaunen reflektiert die Haltung der orthodoxen islamischen Theologie, etwa des Jahm ibm Safwam, eines Zeitgenossen des Johannes, der lehrte, „dass der Mensch eine blosse Marionette sei, bis in den Mechanismus seiner Bewegungen von Gott abhängig“. (74) Das Gegenargument des Johannes war, dass der Mensch, falls ihm Gott nicht freien Willen zugestanden hätte, auch nicht für seine Untaten verantwortlich gemacht werden könne, sich folglich der Widerstand gegen das Böse in dieser Welt erübrige.
Es sei erwähnt, dass die Lehre Buddhas hier die gleiche Position vertritt wie die jüdisch-christliche. Ihr Plädoyer für den freien Willen des Menschen erfolgt in einer unwiderstehlich logischen Ableitung, die auch das heutige existenzielle Elend vieler islamischer Länder erklärt: „Wenn alles durch höhere Fügung entschieden wird, dann sind gute wie böse Taten vorherbestimmt; nichts geschieht, was nicht zuvor schon feststand. Dann würden auch alle menschlichen Pläne und Bemühungen um Verbesserung und Fortschritt vergeblich sein, und die Hoffnung auf Menschlichkeit wäre vergebens (…) Es ist kein Wunder, dass Menschen, die dieser Vorstellung verhaftet sind, alle Hoffnung verlieren und ihre Bemühungen vernachlässigen, weise zu handeln und Böses zu vermeiden.“ (75)
Die Sicht Buddhas stimmt mit der jüdisch-christlichen darin überein, dass wir Menschen mit der Aufgabe unseres freien Willens unseren Widerstand gegen das Böse einbüssen und damit unsere Hoffnung, einen entscheidenden Impetus des Lebens. Direkte Folge der religiös motivierten Hoffnungslosigkeit ist die Vernachlässigung des individuellen Menschenlebens, zunächst der Qualität des Lebens, dann des Lebens selbst – wohl eins der für Aussenstehende befremdlichsten Phänomene der islamischen Sphäre. Es zeigt sich nicht nur in den Selbstmordattentätern, die sich offenbar freudig für eine in unseren Augen sinnlose Sache opfern wie das Zünden von Bomben und Töten anderer Menschen (auch anderer Muslime), sondern – für uns noch unbegreiflicher – in der seltsamen Schicksalsergebenheit grosser Menschenmassen, die despotische Herrscher, Gewalt und Korruption, ein Leben in Elend und Bevormundung ohne Widerstand erdulden.
In der Geringschätzung des eigenen Lebens liegt nach biblischer Vorstellung eine Missachtung der Werke des Schöpfers. Daher wird in der Bibel auch der Selbstmord abgelehnt: unter Berufung auf 1 Moses 9,5 gilt Selbsttötung als Tötung menschlichen Lebens, der Selbstmörder folglich – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – als Mörder. „Gott (…) verweigert uns das Recht, Herr über welches menschliche Blut immer zu sein, unser eigenes eingeschlossen“, schreibt Rabbi Samson Rafael Hirsch in seinem Kommentar zu dieser Torah-Stelle. (76) Die Bewahrung von menschlichem Leben ist daher höchstes jüdisches Anliegen, ausdrücklich ist zur Rettung eines einzelnen Menschenlebens (pikuach nefesh) die Verletzung anderer Gebote erlaubt. Es wird davon abgeraten, sich im Sinne strikter Ausübung der Gebote in Lebensgefahr zu begeben, also alle Formen lebensbedrohlicher Askese, Bussübung oder Geisselung, ferner Martyrien um der Einhaltung der Gebote willen – da die Gebote grundsätzlich, nach 3 Moses 18,5, Quelle des Lebens sein sollen.
Im Islam wird dagegen für ein mit der Tötung anderer Menschen verbundenes Selbstopfer „gewaltiger Lohn“ verheissen, es wird sogar einem Sieg gleichgesetzt. (77) Diese Art Märtyrertum, shahid, ist mit dem biblischen Menschenbild unvereinbar, auch wenn es im Christentum, vor allem in seiner frühen Phase, zahlreiche Martyrien gegeben hat: sie galten jedoch nicht, wie im Islam, der Tötung anderer, im Gegenteil, meist deren Rettung. Ein aus christlicher Sicht achtbares Selbstopfer jüngerer Zeit war die Tat des Paters Maximilian Kolbe, der sich in Auschwitz für einen jüdischen Mithäftling und Vater mehrerer Kinder opferte, indem er an dessen Stelle in den Hungerbunker ging. Es handelt sich um eine in Motiv und Wirkung genau entgegen gesetzte Art von Selbstopfer als bei islamischen Selbstmordattentätern.
Das Martyrium des shahid ist die intimste Form des Menschenopfers. Geringschätzung des eigenen Lebens impliziert die Geringschätzung von menschlichem Leben überhaupt, das Selbstopfer verschafft dem Opfernden eine Pseudo-Legitimation zum Opfern anderer. Diese Haltung wird vom Koran gepriesen. Im Gegensatz dazu lehnt der Gott der Bibel jegliches Menschenopfer ab. Als Abraham seinem Gott den eigenen Sohn opfern wollte, eine in der Alten Welt übliche Praxis, sandte der biblische Gott einen Engel, um ihn daran zu hindern (1 Moses 22, 1-19). Hierin lag die erste revolutionäre Botschaft der Bibel, der Grundstein des humanen Zeitalters. Mit der Belohnung des shahid – zumal, wo es mit der Tötung anderer verbunden ist – hat der Islam die Rückkehr zum Menschenopfer vollzogen und die Botschaft der Bibel aufgehoben. (78)
Krieg und Frieden: Die in unseren Augen geringe Wertschätzung des einzelnen
Menschenlebens liegt im jihad begründet, dem der islamischen Glaubensgemeinschaft gebotenen heiligen Kampf zur weltweiten Durchsetzung des Islam. Der Prophet lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Kampf erst dann zu Ende sein kann, wenn alle Menschen Allah anbeten (Suren 8,39; 61,9 u.a.). Während es missionierenden Christen erklärtermnassen um das Gewinnen von Individuen geht – Jesus bezeichnete seine Jünger als „Menschenfischer“ (Matthäus 4,19) – geht es dem Islam um die Ausweitung des dar al Islam, also um die Beherrschung von Territorien.
Im Koran-Text finden sich widersprüchliche Angaben, wie dabei vorzugehen sei. Sure 2, Vers 187 gebietet für Allah zu kämpfen, jedoch nicht der Aggressor zu sein, „Gott liebt nicht den Angreifer“. Andere Stellen machen klar, dass bereits die Existenz von Nichtmuslimen in einem bestimmten Gebiet als Angriff auf den Islam, daher ein aggressives Vorgehen gegen sie als Verteidigung zu verstehen sei. In diesem Sinne wird für Verteidigung erklärt, was nach unseren Begriffen Aggression ist. Sure 4,104 spricht vom „Aufsuchen“ oder „Aufspüren“ der Ungläubigen – zweifellos ein offensiver Vorgang. Auch Sure 9, Vers 5 gebietet Taktiken des Angriffs: die Ungläubigen sollen getötet werden, „wo immer ihr sie findet“, sie sollen ergriffen, bedrängt oder belagert, ihnen soll „aus jedem Hinterhalt aufgelauert“ werden. Mehrfach wird betont, dass Muslime im Kämpfen nicht nachlassen dürfen. Von „vorzeitigem Frieden“ oder Waffenstillstand wird abgeraten, der Kampf bis zum siegreichen Ende angemahnt, „da ihr doch die Oberhand haben werdet und Gott mit euch ist“ (Sure 47,35)
Auch in der hebräischen Bibel gibt es einen göttlichen Anruf zu fortgesetztem Kampf, gegen Amalek (2 Moses 17,16). Allerdings war Amalek ein kleines Wüstenvolk, nicht die gesamte „ungläubige“ Menschheit. Ein Volk zudem, das in irdischer Form schon seit Jahrtausenden nicht mehr existiert, weshalb der göttliche Aufruf an die Hebräer, gegen Amalek „von Generation zu Generation“ zu kämpfen, einen symbolischen Vorgang meint. Amalek hatte die Israeliten in der Wüste angegriffen (2 Moses 17,8), mit Vorbedacht, weit weg von Amaleks eigenem Aufenthaltsort (1 Moses 36,12;16), überdies aus dem Hinterhalt, gezielt gegen die Nachhut, die Schwachen und Verwundeten (5 Moses 25,17). Kampf und Sieg gegen den überraschend angreifenden Wüstenstamm, vor allem der später wiederholte göttliche Aufruf, diesen Kampf fortzusetzen, sind heute, da es das eigentliche Amalek nicht mehr gibt, als Parabel für Israels Verpflichtung zu dauernder Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft zu verstehen.
Ferner führte das biblische Volk eine Reihe von Kriegen zur Gewinnung und Sicherung des ihm versprochenen Landes, wobei dieses Land per definitionembegrenzt ist und seine Grenzen mehrmals im Text genau bezeichnet werden (2 Moses 23,31; 4 Moses 34,3 u.a.). Die Angaben dieser Grenzen differieren zwischen engeren und etwas weiteren Varianten, von denen jedoch keine weiterführt als bis zum „Bache Ägyptens“ (womit vermutlich der Wadi el-Arish südlich von Gaza gemeint ist) und zum Euphrates auf dem Gebiet des heutigen Syrien. Von daher bleibt jede Auslegbarkeit der „Grenzen des Heiligen Landes“ auf einen engen geographischen Rahmen beschränkt. Ein Anspruch auf weitere Expansion des Territoriums wird in der Bibel nicht erhoben. Kein einziger dieser antiken Kriege
wurde mit einem generellen Vorrecht des biblischen Volkes begründet, „Gläubige“ zu sein und daher Anspruch auf „ungläubiger“ Völker Land zu haben. Für das biblische Volk tritt ein Gefühl des Friedens bereits ein, wenn das Gebiet zwischen Dan und Beer Sheva gesichert ist (1 Könige 5,5), nicht erst, wie im Koran, wenn sich das Reich des Islam über die ganze Welt ausgebreitet hat.
Anthropologischer Prozess: Die Mosaischen Bücher erzählen – nach einer der Entstehung der Menschheit und dem Nomadentum der Patriarchen gewidmeten Vorgeschichte – den Weg eines Volkes aus der Gefangenschaft und seine neue Konsolidierung. Dieser Vorgang einer erfolgreichen Befreiung meint jedoch nicht die Rückkehr in das Nomadenleben von einst, sondern den mühsamen, in einer vierzigjährigen Wüstenwanderung symbolisierten Weg in eine neue stabile Lebensform.
Dennoch war die neue Lebensform zugleich eine frühere, anderswo bereits erprobte, die als Erinnerung bewahrt wurde, als eine Erinnerung, die nach Darstellung der mosaischen Bücher durch Gottes Einschreiten aufgefrischt und wieder lebensfähig gemacht werden musste. Der Stammvater der Hebräer (im hebräischen Original ivrim, wörtlich die, „die herüberkommen“) war ein Flüchtling aus Babylonien, nach Meinung vieler Wissenschaftler aus einer grossen sumerischen Zivilisationskatastrophe um 2000 vor unserer Zeit, Sohn einer dort altansässigen, reichen Familie, jedenfalls ein Mensch, der von einer früheren Zivilisation geprägt und gebildet war. Auffallend ist sein Bemühen, sich sicher niederzulassen, durch Friedensschlüsse mit benachbarten Fürsten eine stabile Situation zu schaffen, seiner verstorbenen Frau zu Hebron ein festes Grabmal zu errichten und anderes, was für einen Nomaden unüblich ist. Sein und seiner Nachkommen Bemühen um feste Situierung wurde jedoch immer wieder zunichte gemacht, vor allem durch Hungersnöte, die zum Ortswechsel zwangen, schliesslich zu einer Auswanderung nach Ägypten.
Im Verlauf der Generationen ist ein Verlust an zivilisatorischen Qualitäten zu beobachten, ein allmähliches Abgleiten und Verwildern, besonders bei der letzten Generation in Kanaan, den Söhnen Jakobs, die gegenüber Frauen, Fremden und Schwächeren schwere Übergriffe begehen und ihren eigenen Bruder in Sklaverei verkaufen. Eigentlich hätte der Weg nun weiter abwärts führen müssen, bis zum endgültigen „Hinübergehen“ in die Lebensform der Nomaden, in wildes Schweifen durch die Wüste, Halten von wandernden, extensiv grasenden Herden, ständiges Kriegführen um Weideland und Wasserstellen, in die Lebensform, die auch in der islamischen Überlieferung „Zeitalter der Ignoranz“ (jahiliya) genannt wird, Zeit der Gesetzlosigkeit, des Faustrechts, der Blutrache.
Durch eine Fügung – wunderbare Rettung und Aufstieg des versklavten Bruders am ägyptischen Hof – entgehen die Söhne Jakobs der Verwilderung. Sie weichen nach Ägypten aus, überstehen gute und schlechte Zeiten, werden versklavt, kommen schliesslich frei, und sind immer noch soweit mit den einst Eingewanderten identisch, dass sie einen letzten Hauch von deren Erinnerung bewahrt haben, Erinnerung an eine Lebensform mit Gesetzen und Strukturen, mit Landwirtschaft und geregelten Besitzverhältnissen, mit Rechtssprechung und Achtung des menschlichen Lebens. Denn als ihr Gott ihnen nach dem Auszug aus Ägypten ein solches Gesetz gebietet, ein Gesetz, das sie nach der schon gekosteten nomadischen „Freiheit“ streng und hart anmuten muss, nehmen sie es bereitwillig an (2 Moses 24,3).
Anthropologisch gesehen, ist der in den Mosaischen Büchern vorgeführte Prozess, wie Morris S.Seale formuliert, „ein Wechsel in der Lebensweise von revolutionärem Ausmass. Sie liessen die Gesetzlosigkeit der Wüste hinter sich, für die Gesetzlichkeit einer niedergelassenen Gesellschaft. Die Mosaischen Bücher können daher als Übungsbuch (training manual) für ein Volk verstanden werden, das sich auf den schweren Weg in Richtung Humanität und Zivilisation begibt.“ (79) Die nomadische Lebensweise war dagegen der Zwang zu ständiger Expansion, nomadisch lebende Völker sind per se kriegerisch. Frieden kann erst einkehren, wenn die extensive, sporadische Wirtschaft wandernder Viehherden durch eine intensive, systematische Landwirtschaft überwunden wird.
Daher ist die im Gesetz vom Sinai regulierte Gesellschaftsform eine durchweg sesshafte, überwiegend auf Landwirtschaft und bodenständiges Handwerk gegründete. Zahlreiche der biblischen Gebote betreffen Pflanzenanbau und Tierhaltung, andere die zwischenmenschlichen und besitztechnischen Verhältnisse einer bäuerlichen Gesellschaft. Die Feste der Juden sind landwirtschaftliche Feste, angeordnet im Zyklus von Saat, Reife, Ernte, vor allem drei Pilgerreisen zum Tempel zur Darbringung von Erstfrüchten und anderen Opfergaben aus ihrer landwirtschaftlichen Produktion, zwischen Pesach und Shavuot wird sieben Wochen der omer gezählt, das Reifen des Getreides etc. Auch Jesus bewegte sich in einer landwirtschaftlichen Welt. Die Feste der Christen folgen dem alten
landwirtschaftlichen Zyklus der jüdischen, unter Hinzufügung einer weiteren, nun mit der Gestalt Jesus verbundenen Komponente.
Im Koran ist überaus selten von Angelegenheiten der Landwirtschaft und sesshaften Lebens die Rede. Die Kultivierung von Land wird empfohlen (Al-harth wa-l-muzara’ah), vor allem das Bewässern (Sure 32,27). Gelegentlich finden im Text Metaphern aus dem Pflanzenbau Verwendung, etwa in Sure 48,29, wo die Anhänger Mohameds spriessenden Saaten und gerade wachsenden Halmen verglichen werden, doch es bleiben wenige vage, poetische Äusserungen, sehr verschieden vom ausgearbeiteten System landwirtschaftlicher Gesetze in den Mosaischen Büchern. Vor allem scheint die Arbeit in der Landwirtschaft kein grosses Ansehen zu geniessen. Die Überlieferung des Hadith, schreibt Maulana Muhammad Ali, „spricht davon als von einer verdienstvollen Handlung, aber warnt zugleich davor, dass jene, die sich ganz der Landwirtschaft widmen, nicht fähig sind zu grossen und glorreichen Taten“ (80)
Beide Bücher, Bibel und Koran, lassen sich als Anleitung verstehen, wie Völker aus dem „Zeitalter der Ignoranz“, aus wildem Nomadentum, Faustrecht und Stammeskriegen herausfinden können. Doch sie zeigen verschiedene Wege und Ziele. Ein früher Unterschied liegt im Verhältnis zum Land: in der Bibel ein fest umrissenes Gebiet, das intensiv kultiviert werden soll, um die darauf Lebenden zu ernähren, im Koran ein – nun aus religiösem Grund – ständig zu erweiterndes Territorium. Der Koran enthält einen erneuten Aufruf zum Nomadentum, diesmal zu einem konzertierten, von der „Gemeinschaft der Gläubigen“ gemeinsam unternommenen. „Das Wandeln auf dem Weg Allahs bedeutet im engsten Sinn die Ausbreitung des Islam durch den Glaubenskrieg“, schreibt Franz Rosenzweig. „In dem gehorsamen Beschreiten dieses Weges, dem Aufsichnehmen der damit verbundenen Gefahren, dem Befolgen der dafür vorgeschriebenen Gesetze findet die Frömmigkeit des Muslim ihren Weg in die Welt.“ (81)
Quellen, Anmerkungen:
(1)“To understand each other you have to talk about what divides” zitierte das amerikanische Nachrichtenmagazin Time, 27.11.2006, einen “dem Papst (Benedikt XVI.) nahestehenden Kleriker“.
(2) Vor allem in jüngster Zeit haben die Kirchen die innere Konsistenz zwischen „Altem“ und „Neuem Testament“ stärker als früher betont, nicht zuletzt aus der Erfahrung, „dass ohne das AlteTestament, ohne Kontakt zu einem unsterblichen, alles überdauernden Judentum, das Christentum seinen eigenen Ursprüngen nicht treu sein kann.“ (Papst Benedikt XVI.)
(3) Friedrich Nietzsche, Antichrist, 1888
(4) Gotthold Ephraim Lessing erzählt in seinem Theaterstück „Nathan der Weise“ (uraufgeführt 1783 in Berlin) die aus des Boccaccios „Decameron“ (um 1350) bekannte Ringparabel nach, die dort von einem Juden Melchisedech aus Alexandria berichtet wird („Melchisedech giudeo con una novella di tre anella cessa un gran pericolo dal Saladino apparecchiatogli“) vgl. Decameron, Edizione Riuniti, Roma 1983, p.56 (Dritte Erzählung des Ersten Tages).
(5) Abrahams Geschichte wird zuerst in 1 Moses 12,1-25,11 mitgeteilt, er gilt als Stammvater der Hebräer. Die Evangelien leiten auch Jesu Herkunft von ihm her (Matthäus 1,1, Lukas 1,55), dem Neuen Testament gilt er als „unser aller Vater“ (Brief des Paulus an die Römer 4,16) Der Koran erwähnt ihn an ca.50 verschiedenen Stellen und behauptet, Sure 3 Vers 60: „In Wahrheit war Abraham weder Jude noch Christ, sondern Muslim“.
(6) Maulana Muhammad Ali, A Manual of Hadith (Arab/English), London and Dublin, 1977, p.4
(7) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M, 1921, S.149, über den Islam: „Und so können wir an diesem merkwürdigen Fall weltgeschichtlichen Plagiats uns vor Augen halten (…), wie ein aus dem Heidentum unmittelbar, sozusagen ohne Gottes Willen, ohne den Plan seiner Vorsehung, also in ‚rein natürlicher’ Verursachung, hervorgegangener Offenbarungsglaube aussehen müsste.“
(8) Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Aisha, pp.4-9, hadith Jabir, p.9
(9) Hesekiel 9,2. Der sechste Engel in der Vision Hesekiels ist in der Darstellung des Babylonischen Talmud, Traktat Yoma 77a, der Erzengel Gabriel.
(10) Daniel 10,5
(11) Jeremia 1,6 ff., Jona 1,3 ff.
(12) Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Aisha, p.7
(13) Suren 12, 2 ; 13,38 ; 16,105 ; 20,111 u.v.a.
(14) Christoph Luxenberg, Die Syro-Aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000. Todesdrohungen extremistischer Muslime galten dem deutschen Orientalisten Hans-Peter Raddatz, dem französischen Philosophen Alain Finkielkraut u.a.
(15) Was Luxenbergs These spektakulär macht und zum Gegenstand weltweiter Beachtung in den Medien, ist die daraus abzuleitende Annahme, es handle sich bei den in der arabischen Fassung des Koran beschrieben Paradieswonnen um Missverständnisse im Übersetzen aus dem Aramäischen: die Houris „mit schwellenden Brüsten“ wären dann z.B. Rosinen. vgl. The Guardian, 12.January, 2002; newsweek, July 28, 2003
(16) Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Zaid ibn Thabit, p.36, zu Abu Dawud und Thirmidi vgl.Fussnote 8 auf derselben Seite
(17) vgl. Ada Yardeni, The Book of Hebrew Script, Jerusalem 1997, Chapter 1E: The Abandonment of the Ancient Hebrew Script in Favor of the Aramaic Script, and the Birth of the Jewish Script, pp.41-46. Auch die talmudische Gemara überliefert, dass zwei Alphabete zum Schreiben hebräischer Texte in Gebrauch gewesen seien, ksav ashuri, das „Assyrische“ (d.i.das Aramäische), und ksav ivri, das Hebräische. Früheste Funde für beide Schriften etwa aus derselben Periode, 9.Jahrhundert v.u.Z.
(18) Sure 19 ist nach Maria benannt, ihre Geschichte wird dort fragmentarisch nacherzählt und mit Erwähnungen von Gestalten aus der hebräischen Bibel (Abraham, Sacharja) und der christlichen (Johannes) auf eine schwer nachvollziehbare Weise verquickt.
(19) Die in Sure 2 Vers 107 dargestellte gegenseitige Geringschätzung von Juden und Christen steht in offensichtlichem Widerspruch zu der in Vers 56 derselben Sure erhobenen Behauptung, sie wären „befreundet“.
(20) Sure 5 Vers 63
(21) vgl. Morris S.Seale: Quran and Bible, Studies in Interpretation and Dialogue, London 1978, p.13, dort besonders der Bezug auf I.Goldziher und dessen Übersetzung des alt-arabischen jahl.
(22) Zunächst in Texten, die um 1790 anlässlich der Übersetzung und Bearbeitung von Voltaires (den Propheten überaus negativ darstellenden) Mahomet ou le Fanatisme entstanden, wie dem Gedicht Mahomets Gesang. Später beschäftigte sich Goethe ausgiebig mit arabischer Poesie und entwickelte eine starke Hinneigung zur islamischen Sphäre.
(23) vgl. Morris S.Seale, The Desert Bible. Nomadic Tribal Culture and Old Testament Interpretation, New York 1974, p.45: “The word al, variously translated as ‘high god’ or ‘yoke’, is the exact equivalent of the two cognate Arabic terms alu and ula (…) The same Hebrew word is found in verb form as alah, ‘to go up’, ‘to rise in rank or dignity’; it would mean the exact equivalent of the cognate Arabic.” Der Autor kommt auf p.201 nochmals auf diese hebräisch-arabische Sprachäquivalenz zurück.
(24) 2 Moses 12,1-25,11
(25) vgl.Chaim Noll, Die Sprache der Bibel, Mut, Asendorf, 11/1996
(26) vgl. Arthur J.Arberry, The Koran Interpreted, New York 1976, p.17: “The quasi-verse form with its unfettered and irregular rhythmic flow of the lines…”
(27) Aus Sicht des rabbinischen Judentums scheint es absurd, dass in der “kommenden Welt” ausgerechnet das getrieben werden sollte, was in dieser Welt für sündhaft oder gesetzeswidrig gilt wie der Beischlaf mit fremden Frauen. Allerdings ist die Authentizität der arabischen Version zweifelhaft, vgl. Fussnote (15). Hingegen ist das Trinken von Wein im Judentum bei bestimmten rituellen Anlässen geboten (Shabat, Feiertage).
(28) vgl. die sogenannten Dreizehn Attribute von Gottes Natur, 2 Moses 34, 5-7, vgl. Rabbi J.H.Hertz, The Pentateuch and Haftorahs, London 1992, pp.362, 364
(29) vgl. die Berichte von Zeitgenossen, vor allem der Witwe Aisha, in Maulana Muhamad Ali, Manual of Hadith, a.a.O., pp.3-15
(30) vgl. Morris S.Seale, The Desert Bible. Nomadic Tribal Culture and Old Testament
Interpretation, New York, 1974, p.135
(31) vgl. Arthur J.Arberry, a.a.O., p.25. Er gibt als einen der Gründe hierfür an: “The Suras are (…) of a composite character, holding embedded in them fragments received at widely differing dates.”
(32) vgl. Minou Reeves, Pantheism, Heroism, Sensualism, Mysticism. Muhammad and Islam in German Literature from Goethe to Rilke, in R.Goerner (Hg.), Traces of Transcendency. Religious Motifs in German Literature and Thought, München 2001, pp.103-105
(33) Sure 56,12 ff; 55, 45ff.; 76, 12ff.
(34) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, a.a.O., S. 275. Rosenzweig sieht die Essenz der jüdischen wie christlichen Botschaft in 3 Moses 19,18: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
(35) Sure 46, 23
(36) 1 Moses 2,7
(37) Jehuda Amichai, Zeit, Frankfurt/M., 1998, S.47
(38) „Sieben Lesarten“ des Koran wurden vom Propheten selbst anerkannt, durch die Spaltung des Islam kamen weitere hinzu. Vgl.Abu Osman Ibn Said Adami, Das Handbuch der Sieben Koran-Auslegungen, Hg.v. Otto.Pretzel, Leipzig, 1935
(39) Ignaz Goldziher, Die Richtungen der Islamischen Koran-Auslegung, Leyden, 1952 (Reprint der Ausgabe von 1920), S.2
(40) ebenda, S.3f.
(41) ebenda, S.270
(42) ebenda, S.271 ff.
(43) Morris S.Seale: Quran and Bible, Studies in Interpretation and Dialogue, London 1978, p.16
(44) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M., 1921, S.211
(45) Ignaz Goldziher, a.a.O., S.330
(46) Abdallah ibn abi Sarh war Milchbruder des Kalifen Othman und bekleidete unter diesem „eine hervorragende Stellung im Islamreiche“. Sein offenherziges Bekenntnis über die Willkür seiner Niederschrift brachte ihm von anderen Muslimen den Vorwurf ein, er habe „den Koran eigenmächtig gefälscht“, obwohl Mohamed bei der Niederschrift anwesend war und diese offenbar billigte. Vgl. Goldziher, a.a.O., S.35
(47) vgl. Goldziher, a.a.O., S.2
(48) 3 Moses, 18,5: v chai bahem, Denn ihr sollt durch sie (die Gebote) leben.
(49) vgl.Goldziher, a.a.O., S.61. Die zitierte Koran-Stelle ist Sure 6, Vers 67
(50) 2 Moses 12,38
(51) 2 Moses 22, 20; 2 Moses 23,9; 3 Moses 19,33-34; 5 Moses 24,14 u.a.
(52) Hermann Cohen, Was einigt die Konfessionen? Rede, 1917, zit.n. E.L.Ehrlich,
Toleranzbegriff im Judentum, Jüdische Zeitung Berlin, 1/2007
(53) vgl.Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen, Mut, Asendorf 2 und 3/2005
(54) Dem Judentum gilt die Schöpfung als perpetualer, in ständiger Erneuerung befindlicher, niemals endender Vorgang, gemäss dem ersten der dreizehn Glaubensartikel des Maimonides (Rabbi Moshe ben Maimon), vgl. Rabbi Nosson Scherman (Ed.), The Complete Art Scroll Sidur, New York 1984, p.178
(55) 1 Moses 21,12
(56) vgl. Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme, a.a.O.
(57) Erster Brief des Paulus an die Timothäer 2,11 f., Brief an die Epheser 5, 22f.
(58) Verbindung Schutz der Fremden-Schutz der Witwen und Waisen: 5 Moses 24,17; 5 Moses 24,20 u.a.
(59) Rabbi Shimeon ben Izhak, genannt Rashi, Kommentar zu 2 Moses 22,21, vgl. The
Pentateuch and Rashi’s Commentary, New York, 1977, p.262
(60) 2 Moses 20, 10
(61) Einbeziehung des Fremden in den Shabat-Segen bedeutet, dass diesem das Privileg des freien Tages zugestanden wird wie einem Landeskind und Juden, eine in der Antike einzigartig humane Regelung. Seneca und andere Römer fürchteten den wirtschaftlichen Verlust und wandten sich gegen den Shabat. Vgl. Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme, a.a.O., Fussnote 32
(62) Noachidische Gebote meint die Gebote des mit Noah nach der Sintflut geschlossenen
Bundes, 1 Moses 9,1-7, die nach jüdischer Auffassung den für alle Menschen gültigen minimalen Moralkodex bilden sollten. Vgl. Rabbi J.H.Hertz, The Pentateuch and Haftorahs, London 1992, p.32
(63) Die Idee einer Mission “unter den Völkern“ kann sich berufen auf Psalm 96: sapru va gojim k’vodo oder fast gleichlautend 1 Chronik 16, 24, welche Formel die Luther-Bibel übersetzt mit: „Verkündet unter den Heiden seine Herrlichkeit“
(64) Über die nach Mohameds Darstellung den „Ungläubigen“ zugedachten göttlichen Strafen : Sure 2, Vers 189ff., Sure 3 Verse 103, 126, Sure 4, Verse 45, 50, 59, Sure 8 Vers 12, Sure 9 Vers 5 u.a.
(65) vgl. Muhammed Ahmad Rassoul, Die ungefähre Bedeutung des Quran Karim in deutscher Sprache, Köln o.J. Im gleichen Sinne übersetzt auch Arthur J.Arberry, The Koran Interpreted, New York, 1977, p. 105. Im Mosaischen Gesetz wird derlei Selbstjustiz ausgeschlossen. Wo Strafen gegen Frauen zu verhängen sind (im Fall von Rechtsbrüchen), geschieht es durch Gerichte, nicht durch Ehemänner.
(66) Sure 19. Vgl. Ruth Roded, Women in Islam and the Middle East. London, New York 1999, p.27: “There is one woman actually named in Koran.”
(67) Vgl. Merle Severy, The World of Suleyman the Magnificent. National Geography, 11/1987, p.552 ff.
(68) vgl.Erich Weede, Freiheit und Islam – ein Widerspruch? liberal, Berlin, November 2006, S.9., M.Severy, a.a.O.
(69) Henri Pirenne, Mohammed and Charlemagne, London, 1939, p.150
(70) Maulana Muhammad Ali, A Manual of Hadith (Arab/English), London and Dublin, 1977, p.252
(71) ebenda, p.33
(72) Hans-Peter Raddatz, Assisi und Zurück, Dialog mit Allah im Spiegel der Päpste, in: Die neue Ordnung, 3/2006, Jg.60, S.8
(73) Heinz Theisen, Kulturelle Grenzen der Demokratisierung. Mut, Asendorf, 456, August 2005, S.26. Die Orientalistin Annemarie Schimmel drückte denselben Tatbestand euphemistischer aus: „Im Islam soll sich der Mensch in das Gewebe der Gesamtheit einfügen“, vgl. Der Westen und die Welt des Islam, Mut, Asendorf 10/1995, S.65
(74) zit.nach Morris S.Seale, a.a.O., p.64
(75) Die Lehre Buddhas, Tokyo, 1966, S. 45
(76) The Pentateuch with the Commentary of Rabbi Samson Raphael Hirsch, New York, 1997, p.46
(77) Sure 4,74: Und wenn einer für Allahs Sache kämpft und wird getötet oder siegt, dem werden wir gewaltigen Lohn geben. Sure 4,79 f. erklärt das irdische Leben für nicht wert, daran zu hängen, ausserdem müsse der Mensch ohnehin sterben.
(78) vgl. H.P.Raddatz, a.a.O., S.7 ff.
(79) vgl. Morris S.Seale, The Desert Bible. Nomadic Tribal Culture and Old Testament
Interpretation, New York 1974, p.150
(80) Maulana Muhammad Ali, a.a.O., p.302
(81) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, a.a.O., S.275
Chaim Noll steht gerne für Vorträge oder Lesungen zur Verfügung. Anfragen richten Sie bitte an: redaktion@compass-infodienst.de
(Quelle: compass-infodienst.de)
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Guter Text. Judentum und Christentum halten dazu an, seinen Verstand zu gebrauchen. Den Satz zum Islam und Verstand kann sich jeder selber formulieren.
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