Der deutsche Sozialstaat hat sich zu einem sich selbst verstärkenden System entwickelt. Die Anzahl der Empfänger von Transferleistungen übersteigt bereits die der Lohnsteuerzahler um fast fünf Millionen. Eine Demokratie hat die Neigung, die Interessen der Mehrheitsbevölkerung überproportional zu berücksichtigen. Wird diese Tendenz durch den moralischen Parameter der Unterstützung des „Sozialen“ verstärkt, ist eine zunehmende Vernachlässigung der Belange der Leistungsträger die logische Folge.
Das hat vielschichtige, letztendlich dramatische Auswirkungen auf die eigentlich wünschenswerte Erhaltung des Sozialstaates sowie die Struktur der gesamten Gesellschaft. Unter dem Titel „Die Tyrannei der zufälligen Mehrheit“ schreibt die FAS in ihrer Print-Ausgabe vom 11.02.2007 (S. 36) zum Abgang von Friedrich Merz:
Wenn ein Politiker in Deutschland die Politik verlässt, heißt es, er sei gescheitert. Weil der CDU-Politiker Friedrich Merz vergangene Woche seinen Ausstieg aus dem politischen Berlin angekündigt hat, gilt er jetzt als Verlierer.
Doch niemand sollte Mayer, Brown, Rowe & Maw unterschätzen. Mit 1400 Anwälten, Büros in 14 Städten rund um den Globus und Stammsitz in Chicago zählt die Kanzlei zu den großen amerikanischen Law-Firms. Von A wie Antitrust (Kartellrecht) bis W wie Wealth Management (Rat für die Superreichen) findet sich das gesamte Abc der juristischen Dienstleistungen auf der Service-Palette der Anwälte.
Wer als Partner bei Mayer, Brown, Rowe & Maw arbeitet, kann nicht wirklich gescheitert sein. Der Rechtsanwalt Friedrich Merz arbeitet seit 2005 bei der Firma. Er hat den englischen Hedgefonds TCI beraten bei dessen erfolgreichem Angriff auf die Frankfurter Börse. Und er berät die RAG, die einstige Ruhrkohle, auf ihrem Weg an den Kapitalmarkt. Merz ist dabei, wenn es um Geld, Macht und die Verschiebung von Eigentum in großem Stil geht. Verlierer sehen anders aus.
Wenn Politiker aus der Politik aussteigen und „in die Wirtschaft wechseln“ (Matthias Berninger, Sigmar Mosdorf, Rezzo Schlauch, Helmut Hausmann), dann landen sie meist in irgendwelchen Berater- und Lobbyistenjobs, werden schnell vergessen und sind die Loser. Dass einer wie Merz eine an Einfluss, Status und Einkommen bessere Alternative zieht (zumindest solange er nicht Finanzminister wird), ist hierzulande nicht üblich. „Hier habe ich die Chance, mit einem Team junger Leute in einer rasant sich verändernden Welt etwas zu bewirken“, sagt Merz. Diese Chance sieht er in der Politik nicht (mehr).
Friedrich MerzWarum? Weil Merz sich zunehmend schwertat, Zustimmung in seiner Partei und bei den Wählern zu finden? Weil Führungsfiguren den Deutschen eingedenk ihrer historischen Traumatisierung allemal suspekt sind? Weil ein Politiker, welcher die Leistungsträger stärken und die Umverteilung eindämmen will, bei der Mehrheit der Deutschen keinen Rückhalt mehr hat? Merz selbst findet all diese Deutungen nicht völlig abwegig.
Leistungsträger, das sind Leute, die bei Mayer, Brown, Rowe & Maw arbeiten. Leute wie Merz also, die viel verdienen und (in der Regel) ordentlich Steuern zahlen. Deren Stimme bei Wahlen aber immer weniger ins Gewicht fällt.
Tatsächlich finanzieren die obersten zehn Prozent der Steuerzahler mit den höchsten Einkommen bereits über 50 Prozent des Steueraufkommens. Doch das Sagen hat in Deutschland längst die Mehrheit derer, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst erwirtschaften: die sogenannten Transferempfänger, deren Einkommen aus Steuer- und Sozialversicherungstöpfen gespeist werden. Während die Zahl dieser Transferempfänger in Deutschland im Jahr 1971 bei 11,2 Millionen lag und die Zahl der Lohnsteuerzahler bei 20,6 Millionen, hat sich die Relation bis zum Jahr 2001 (neuere Vergleichszahlen gibt es nicht) dramatisch verschoben: 25,7 Millionen Steuerzahlern standen Anfang des 21. Jahrhunderts 30,8 Millionen Transferempfänger gegenüber. Darunter fallen Rentenbezieher, die Empfänger von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe sowie die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
„Das ändert die Eigenschaften des sogenannten Medianwählers, der das Zünglein an der politischen Waage der Wahlentscheidungen ist“, sagt Horst Siebert, Ex-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Alle Transferempfänger haben legale Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat: Weil sie früher einmal Beiträge entrichtet haben, weil der Wohlfahrtsstaat niemanden durch das soziale Netz fallen lässt, vielleicht auch, weil es aus ihrer Sicht auskömmlicher ist, im Vorruhestand oder mit Hartz IV zu leben als mit einem bezahlten Job.
Doch wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst erwirtschaftet, von dem kann man schwerlich verlangen, dass er Politikern seine Stimme gibt, die fordern, künftig weniger Geld umzuverteilen. Das wäre nicht sehr vernünftig. Seither ist das Leben für Friedrich Merz und Leute seiner Denkungsart schwerer geworden.Politiker aller Parteien haben einen guten Riecher für diese Verschiebung der Wählerstruktur. Schließlich geht es um den Erwerb oder Erhalt ihrer Macht. Jürgen Rüttgers gibt dafür das beste Beispiel. Links reden und allenfalls im Verborgenen wirtschaftlich handeln, heißt die neue Tagesparole für die Konservativen. „Man muss die Leute mitnehmen“, sagt Rüttgers ununterbrochen und redet deshalb von sozialer Gerechtigkeit und vielen warmen Wohltaten für das Herz. Dass er zugleich vorhat, beherzt den Landeshaushalt zu sanieren und die alten Industriestrukturen abzuräumen, muss er ja nicht dazusagen.
Die neue Mehrheit der Deutschen will keine Reformen, weil sie von Reformen kurzfristig nur Nachteile befürchtet. Und langfristig, wenn alle profitieren, könnte man schon tot sein. Wer würde sich darauf einlassen. So haben die Wähler bei der vergangenen Bundestagswahl abgestimmt. Das Reformversprechen war nicht deutlich zu sehen; die Reformgewinne blieben pure Hoffnung. Das Ergebnis heißt große Koalition. Für Friedrich Merz ist kein Platz mehr unter den machthabenden Politikern – solange er nicht bereit ist, so zu reden wie Jürgen Rüttgers. Aber so sieht er nicht aus.
Die in die Minderheit gedrängten Leistungsträger rächen sich subversiv. Sie geben ihren Ehrgeiz auf, eine politische Karriere dran und gehen in die Großkanzleien oder Investmentbanken. Oder sie wandern aus. Steuerzahler machen sich vom Acker. „Das Mischungsverhältnis der Bevölkerung ändert sich in einem schleichenden Prozess“, sagt der Hannoversche Finanzwissenschaftler Stefan Homburg.
Es gibt eindrucksvolle Zahlen, die Homburgs These belegen. Im Jahr 2005 haben genau 144 800 Deutsche ihrem Land den Rücken gekehrt. Dem standen aber nur noch 128 052 Zuzüge gegenüber. 2005 war damit das erste Jahr in fast vier Dekaden, in welchem die Zahl der Auswanderer die der Einwanderer übertraf. 1990, zum Vergleich, sind 273 633 Menschen nach Deutschland gekommen und nur 98 915 gegangen. Jene, die heute gehen, sind längst nicht nur junge Menschen ohne Ausbildung. Es sind die Ärzte, Ingenieure, Architekten und Wissenschaftler. Sie gehen wegen der besseren Karrierechancen. Sie gehen, weil sie die Hoffnung hegen, andernorts über größere finanzielle Anteile ihres Erfolgs selbst verfügen zu können. „Die große Zahl ist weniger das Problem. Der Auszug der klugen Köpfe ist das Problem“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung.
Abwandern oder Widersprechen, Exit oder Voice, wie der deutsche Emigrant Albert O. Hirschman wusste, waren immer schon die Protestalternativen jener, die in der Minderheit sind. Exit, Wechseln zur internationalen Großkanzlei oder in das chancenreichere Ausland, steht in freien Gesellschaften allen mobilen und leistungsbereiten Menschen zu Gebote. Voice, der Protest, ist riskanter. Denn wie soll man in einer Demokratie die Transferempfänger in ihre Schranken weisen, ohne dass dies zugleich zu undemokratischen Verhältnissen führt? „Demokratie ist eine Staatsform, die alle Bürger an den Entscheidungen des Staates beteiligt“, sagt der Mannheimer Ökonom Roland Vaubel. Dass die Bürger mit Mehrheit – vielleicht sogar mit einfacher Mehrheit – entscheiden können, sei jedoch kein Definitionsmerkmal der Demokratie, fügt Vaubel provokant hinzu.
Prof. Roland VaubelWer so etwas sagt, den stempelt die Mehrheit rasch zum Verfassungsfeind. Vaubel muss das gerade erleben. In einem Blog im Internet hat er in der vergangenen Woche Strategien gegen die „drückende Tyrannei der zufälligen Mehrheit“ in der Demokratie aufgelistet. So sei es aus ökonomischer Sicht durchaus sinnvoll, bei Themen, welche die Staatsausgaben betreffen, die Stimmen jener besonders zu gewichten, die dafür bezahlen müssen. Die Transfers würden direkt von der Zustimmung der Leistungsträger abhängen, und die Mehrheit könnte die Erfolgreichen nicht beliebig mit Steuern und Abgaben schröpfen.
Der Protest gegen Vaubels Utopie war abzusehen. Ein Rückfall in den vordemokratischen Klassenstaat wurde befürchtet, auch wenn Vaubel argumentiert, dass Demokratien wie Athen oder Zweikammersysteme wie die römische Republik mit solchen differenzierten Gewichtungen der Wählervoten nicht schlecht gefahren sind. Vaubel, den Beamten, als Verfassungsfeind von der Universität zu verbannen sind noch die mildesten Strafexpeditionen, welche die Gegner androhen.
Aber auch Kollegen Vaubels widersprechen. Für eine „Anmaßung des Wissens“ hält der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar die Idee, Menschen gemäß ihrer Wirtschafts- und Steuerkraft mit unterschiedlichen demokratischen Stimmrechten auszustatten. Denn dann müssten vorher die verfassunggebenden Leute zu wissen vorgeben, wer mehr und wer weniger zum Gemeinwesen beiträgt. Ein Trost bleibt: Auch die Transferempfänger wissen, dass sie die Leistungsträger nicht bis zum Letzten schröpfen dürfen, bringen sie damit doch die Quellen ihres eigenen Einkommens zum Versiegen. Die Verschiebung der Wählerstruktur wird ihre natürliche Grenze finden.
Stimmenanteile gemäß Steueraufkommen zu gewichten geht allerdings am Problem vorbei, das in viel zu geringen betriebs- und volkswirtschaftlichen Grundkenntnissen besteht. Ohne ausreichende Kenntnis über den Vorgang der Wertschöpfung eines Wirtschaftssystems fehlt es den Wählern schlicht an Kompetenz, um
- nicht auf populistische Heilsversprechen, wie sie vor allem von linken und linksradikalen Parteien propagiert werden, herein zu fallen
- inkompetente Politiker von kompetenten Politikern unterscheiden zu können.
Doch schon an den Schulen Deutschlands, wo Wissen wie Ethik vermittelt wird, ist das Thema „Ökonomie“ allenfalls ein Randthema. Unser Bildungssystem prägt die künftigen Wähler in die Richtung, von Anfang an bevorzugt Forderungshaltungen gegenüber dem Staat einzunehmen und erhebt gutmenschliche Selbstdarstellung zum Verhaltensideal. Hier exemplarisch das Selbstverständnis des Konstanzer Schüler Parlaments (KSP):
Die Aktionen des KSP sind sehr unterschiedlich. Das KSP organisierte in den Jahren 1996-2004 u.a. Podiumsdiskussionen zu Landtagswahlen, eine ”Jungkünstlerausstellung”, eine Podiumsdiskussion zur Oberstufenreform in Baden-Württemberg, einen Aktionsstand mit Lichterkette gegen die zunehmende Gewalt von Rechts, eine Demo gegen den Irakkrieg sowie einen Spendenmarathon für die UNICEF. Neben solchen Aktionen richtet das KSP zusammen mit dem Stadtjugendring sowie mit Vertretern der Stadt jährlich ein bis zwei ”Jugendhearings” aus, an denen die Jugendlichen in Konstanz zu aktuellen lokalen Problemen mit den Bürgermeistern oder anderen Offiziellen diskutieren können.
Forderungen nach einem ausgeglichenen Haushalt, oder gar Steuersenkungen, kommen in Deutschlands Schüler- und Nachwuchsparlamenten wohl so gut wie nicht vor. Dafür oftmals eine als selbstverständlich empfundene, gutmenschliche Anspruchshaltung, die völlig entkoppelt ist von der Frage der Finanzierbarkeit. Es fehlt das nötige Verständnis dafür, dass jede Wohltat für die einen, zugleich eine Last für andere bedeutet.
Politik und die Wähler befinden sich in einem selbst verstärkenden Kreislauf. Politiker bestätigen die Wähler in ihren Forderungshaltungen mit Versprechungen. Die so konditionierten Wähler bevorzugen wiederum tendenziell jene Politiker, die die schönsten Versprechungen machen. Der Mehrzahl der Wähler mangelt es an Kompetenz, um zu erkennen, dass überzogene sozialstaatliche Versprechungen zu einer verminderten Leistungsfähigkeit des Staates führen müssen. Das Ideal einer überzogenen, finanziell belastend-unsoliden Sozialstaatlichkeit führt durch Überforderung und Benachteiligung der Leistungsträger zu einer verminderten sozialstaatlichen Leistungsfähigkeit.
Doch wer dies verhindern will, wie z.B. Friedrich Merz, sieht sich zunehmend isoliert und unverstanden, weil er vom vorherrschenden sozio-ökonomischen Durchschnittskenntnisstand der Wähler immer mehr abweicht. Zugleich gibt es über die Medien ebenfalls immer geringere Unterstützung durch Vermittlung einer Sichtweise wie Merz sie vertritt, denn auch dort ist die normativ geprägte Unkenntnis über die Zusammenhänge in einer Volkswirtschaft dominant. Das heißt, dass der bereits bestehende Prozeß der finanziell ruinösen Expansion des Sozialstaates bei gleichzeitiger Unterminierung seiner ökonomischen Grundlagen anhalten wird. Bis zum endgültigen Zusammenbruch des Systems.
(Spürnase: Florian G.)
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